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Handbuch für Detektive - Roman

Handbuch für Detektive - Roman

Titel: Handbuch für Detektive - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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gar nicht verdient. Es ist ein langer Weg von dem, was eine Person sagt, bis zu dem, was sie damit verbirgt. Wer diesen Weg nicht selbst erkundet hat, wird sich darauf immer wieder verirren.
    Unwin sah sich selbst auf diesem Weg: einer schmalen Straße zwischen hohen Häuserreihen, in denen nur wenige Lichter brannten und alle Türen verriegelt waren. In beiden Richtungen krümmte sich diese Straße bis zum Horizont.
    Hatte Unwin seine eigenen Geheimnisse? Nur, dass er eigentlich kein Detektiv und inoffizielle Wege aus inoffiziellen Gründen gegangen war, und dass er einen Moment lang – lange genug, um sich eine Fahrkarte zu kaufen – in Erwägung gezogen hatte, alles hinter sich zu lassen. Doch jene Geheimnisse waren zweitrangig.
    Als er von dem Buch aufblickte, sah er zu seiner Verblüffung Miss Greenwood aufrecht auf dem Bett sitzen. Sie strich sich sorgfältig die Vorderseite ihres Kleides glatt.
    «Sie sind wach», sagte er.
    Sie erwiderte nichts. Ihre Augen waren offen, doch als sie vom Bett aufstand, schien sie ihn nicht zu sehen. Ohne ein Wort durchquerte sie den Raum.
    «Miss Greenwood», sagte er und erhob sich wieder. Er steckte das
Handbuch
in seine Aktentasche.
    Ohne auf ihn zu achten, ging sie zum Fenster und schob den Riegel zurück. Ehe er bei ihr sein konnte, hatte sie es schon aufgestoßen. Auf der Stelle machte sich kalte Herbstluft im Zimmer breit, Regen wurde von der Straße hereingeweht und benetzte alles.

Es liegt auf der Hand, dass es wichtig ist, die Augen offen zu halten, doch die Wachsamkeit, die von einem Detektiv verlangt wird, geht über das gewöhnliche Maß weit hinaus. Er muss sehen, ohne dass man es ihm ansieht, und sogar dann beobachten, wenn er in die andere Richtung schaut.
     
    Miss Greenwood kletterte auf die Feuerleiter hinaus und stöckelte vorsichtig auf ihren hochhackigen Schuhen die steile Treppe hinab. Unwin wollte gerade noch einmal ihren Namen rufen, als er sich daran erinnerte, einmal gehört zu haben, wie gefährlich es war, einen Schlafwandler zu wecken. Er stellte sich vor, wie sie die Augen aufriss, den Moment ihrer Verwirrung, einen verhallenden Schrei …
    Er fürchtete sich vor der Vorstellung, wieder in den Regen hinaus zu müssen, sammelte aber dennoch seine Sachen ein und folgte ihr die beiden Treppenfluchten hinab, vorbei an den dunklen Fenstern des Hotels. Am Fußende der Feuerleiter stand sein Fahrrad, das er zuvor dort angekettet hatte. Er hatte keine Zeit, es aufzuschließen und mitzunehmen – Miss Greenwood war bereits auf dem Weg aus der Gasse. Auf dem Gehweg holte er sie ein und spannte seinen Schirm über ihnen auf.
    Was hatte sie eigentlich gemeint, als sie sagte, sie wolleihn anheuern? Beim nächsten Block folgte er ihr an der geschwungenen Kalksteinfassade des Stadtmuseums entlang, während der Regen seine Hosenaufschläge benetzte und der Wind mit seinem Schirm kämpfte. An der nächsten Ecke bog sie rechts ab und führte sie erst vom Stadtpark weg und dann in Richtung Norden. Auf dieser Höhe trat ein Mann mit einem Sack über der Schulter aus einem Wohngebäude. Er schloss sich ihnen an, und Unwin sah, dass er nur einen Bademantel trug. Seine Augen waren, wie die von Miss Greenwood, unergründlich. Aus dem Sack – der nichts anderes war als ein Kissenbezug – war das Ticken lauter Uhren zu hören, von hunderten vielleicht.
    Andere Schläfer schlossen sich ihnen auf ihrem Weg an, Frauen und Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlich dürftig bekleidet, im Pyjama, ohne Strümpfe, tropfnass. Alle trugen sie Säcke mit Weckern über der Schulter, und alle schienen genau zu wissen, wohin sie gingen.
    Unwin hatte das Gefühl, mitten in das Rätsel, das er lösen sollte, das, womit ihn Lamech hatte beauftragen wollen, hineingestolpert zu sein. Plötzlich hasste er diesen selbstgefälligen, schweigenden Leichnam im sechsunddreißigsten Stock. Mit diesem Rätsel hier wollte er nichts zu tun haben, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von seinem Sog mitreißen zu lassen.
    Sie gingen zehn, zwölf, fünfzehn Blocks weit. Am nördlichen Ende der Stadt kamen sie in ein Viertel, das gar nicht mehr zur Stadt zu gehören schien. Hier umschloss eine dicke Steinmauer eine große, leicht hügelige Fläche. Ein Eisentor, zwei Stockwerke hoch, stand offen, um die Schar der Schläfer hindurchzulassen. Die Bergahornbäume an der Auffahrt, die sich dahinter anschloss, warfen ihre kleinenSchraubenflieger ab, Samenkapseln, die sich im Regen

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