Handbuch für Detektive - Roman
im Stehen kaum größer war als ein Kind. Sie gab Unwin ein Zeichen, Platz zu machen, und öffnete eine Klappe, die in der Wand verborgen war. Sie zog ein Buch heraus, das in etwa die Größe des
Handbuchs für Detektive
hatte, jedoch statt einem grünen einen roten Einband besaß. Sie schlug es auf einer bestimmten Seite auf und las, ohne danach suchen zu müssen, einen einzigen Abschnitt daraus vor.
Lösungen, wie sie von den so vertrauenswürdigen Schreibern aus den Berichten der damit betrauten Detektive herausgefiltertund von den Boten zu oben erwähnten Stätten überbracht wurden, sollten dort gründlich studiert und gemäß ihrer allgemeinen Bedeutung miteinander verknüpft und somit für die Durchsicht durch den Aufseher vorbereitet werden. Diese Aufgabe steht einzig und allein dem Hauptschreiber der Abteilung «Lösungen» zu, weshalb diesem größtmögliche Ruhe und Ungestörtheit durch seine Untergebenen und seine Vorgesetzten zu gewähren ist.
«Und wo sind dann Ihre Unterschreiber?», fragte Unwin.
Miss Burgrave seufzte. Sie schien etwas aufgegeben zu haben: eine Überzeugung vielleicht, oder eine Hoffnung. Sie stellte das Buch wieder an seinen Platz zurück, schloss die Klappe und bedeutete Unwin dann, ihr durch eine Tür hinter ihrem Schreibtisch zu folgen. In dem Flur dahinter konnte Unwin wieder aufrecht stehen. Auch hier hörte er die leisen akustischen Zeugnisse schreiberischer Emsigkeit: das Flüstern, das Kratzen der Schreibfedern, die eiligen Schritte. Doch diejenigen, die diese Geräusche machten, waren nirgendwo zu sehen, weder auf dem langen Korridor noch auf den zahlreichen Gängen, die davon abgezweigten. Aus den Wänden ragten zwei Reihen von Schränken mit Hängedateien, die einen am Boden, die anderen auf Taillenhöhe, und beide waren so angelegt, dass ihr gesamter Inhalt einzusehen war. Ab und zu verschwanden diese Schubladen in den Wänden und tauchten aber einen Moment später wieder daraus hervor.
Während sie weitergingen, erklärte Miss Burgrave: «Wir befinden uns jetzt zwischen den Wänden des Lösungsarchivs. Meine Unterschreiber sitzen da draußen und haben Zugang zu den Akten, die sie benötigen. Dabei folgen sie den Anweisungen, die ich ihnen auf verschiedenen Wegenzukommen lasse, mit Aktennotizen, Klingelzeichen und verschiedenfarbig codierten Signalen. Weder kennen sie mich, noch würde ich sie erkennen, außer an der Art, wie sie sich räuspern.»
Irgendwo aus dem Dunkeln zog sie eine Trittleiter hervor, stieg darauf und schaltete eine Lampe an, die über einer der Schubladen baumelte. Sie kniff die Augen zusammen und rückte die Brille auf ihrer Nase zurecht. «Genau dafür sind Sie zweifellos gekommen.»
Unwin überflog rasch die Titel. Und da war sie, in chronologischer Reihenfolge – die ganze Arbeit, die er in den zwanzig Jahren, sieben Monaten und einigen Tagen seiner Dienstzeit bei der Agentur verrichtet hatte, jedes einzelne Wort jedes einzelnen Falles, die großen Werke und die weniger bekannten, die großen Coups ebenso wie die unbedeutenderen Kriminalfälle. Sie füllten kaum mehr als eine einzige Schublade.
Miss Burgrave sah aufmerksam zu, wie Unwin die Akte zum «Ältesten Mordopfer der Welt» herauszog. Eine lange Karte war auf der Rückseite der Mappe befestigt, voller maschinegeschriebener Querverweise auf andere Fallakten in den Archiven: hier der Hinweis auf den ursprünglichen Kriminalfall, dessen Akte ein Stockwerk höher in der Abteilung «Rätsel» bei Miss Benjamin lag, dort auf Akten der anderen Detektive, die sich mit dieser hier überschnitten. Darunter gab es Querverweise auf ein weiteres, drittes Archiv.
Er sagte zu Miss Burgrave: «Diese hier beziehen sich auf Akten, die sich in der Obhut von Miss Palsgrave befinden. Worum handelt es sich dabei?»
Miss Burgrave fuhr zusammen. «Für eine Hauptschreiberin der Abteilung Rätsel», sagte sie, «hatte diese Miss Benjamin aber eine Menge zu erzählen. Wie sehne ich michdoch nach den Tagen von Miss Margrave, ihrer Vorgängerin auf diesem Posten, zurück! Das war eine Frau, die es immerhin verstand, etwas für sich zu behalten! Sie starb nur wenige Tage nach ihrer Pensionierung. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Manche Leute besitzen nicht viel außer ihrer Arbeit. Doch das scheint hier in der Agentur fast schon symptomatisch zu sein. Wohlgemerkt, Schreiber und Unterschreiber sind dagegen immun. Doch wer auch immer irgendetwas weiß, dem ist nur ein sehr kurzer Ruhestand vergönnt. Auch ich
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