Hannahs Entscheidung
schon, Nana. Da gibt es noch einige ungeklärte Dinge«, entgegnete sie.
Eingekuschelt in den mittlerweile abgenutzten und etwas ausgeblichenen Quilt, den Ellie ihr in ihrem ersten Jahr auf Fairview als Willkommensgeschenk genäht hatte, machte es sich Hannah in dem breiten Queensize-Bett gemütlich. Ihr kam es vor, als hätte sie gestern erst ihr altes Mädchenzimmer verlassen. Die Wand gegenüber schmückte ein Druck von Edgar Degas: Tänzerinnen in Grün. Bevor sich Hannah für die Ausbildung zur Krankenschwester entschieden hatte, träumte sie davon, tanzen zu dürfen. Ellie hatte ihr viele Jahre Ballettunterricht ermöglicht, aber letztendlich hatte Hannah laut Miss Dechamps, der Ballettlehrerin, das letzte Fünkchen Talent gefehlt, um eine entsprechende Laufbahn einzuschlagen. Hannah hatte es der Lehrerin damals sehr übel genommen, etwas derart Niederschmetterndes zu äußern. Heute gelang es ihr, darüber zu lächeln. Sie hätte nicht wirklich das harte, disziplinierte Leben einer Tänzerin führen wollen. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie unbedingt in ihren ursprünglichen Beruf zurückkehren wollte. Die Stelle bei Walgreens in der Apotheke hatte sie nicht erfüllt. Sie sehnte sich danach, in flachen Schuhen und Schwesterntracht durch blank geschrubbte Flure zu eilen, in denen es nach Bohnerwachs und Desinfektionsmittel roch. Sie wollte spüren, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss, wenn sie bei einem Notfall assistieren musste. Menschen die Hand zu halten, um ihnen die Angst vor einer bevorstehenden Operation zu nehmen, Wunden zu verbinden und Bettpfannen zu leeren. Das war ihre Leidenschaft. Ihre Bestimmung. Fast hätte sie laut aufgelacht. Vielleicht würde sie wieder eine Anstellung im Charlotte Memorial finden? Ihre damaligen Vorgesetzten hatten sich wenig erfreut über ihre überraschende Kündigung und den plötzlichen Weggang gezeigt. Sie würden sie sicher nicht mit offenen Armen empfangen, doch vermutlich hatte das Team in der Zwischenzeit gewechselt. Auf jeden Fall würde sie sich dort bewerben, sobald sie auf Fairview eingezogen war.
Sie drehte den Kopf zum Fenster. An dem zierlichen weißen Sekretär, der einst ihrer Mutter gehört hatte, und der so viele Erinnerungen barg, hatte sie immer gern gesessen und träumend zum Garten hinausgeblickt. Ein Carolinataubenpärchen hatte in der Krone der alten Eiche jahrein, jahraus sein Nest gebaut. Ellie hatte diese Vögel stets mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln betrachtet, weil sie das Gurren und den Dreck, den sie hinterließen, nicht hatte leiden können. Ebenso wenig hatte sie es jedoch übers Herz gebracht, die Vögel zu vertreiben. Einem spontanen Impuls folgend wickelte sich Hannah aus der Decke und hüpfte aus dem Bett. Sie trat ans Fenster, um es hochzuschieben. Sofort bauschte eine Brise die zarten Vorhänge und transportierte den süßen Duft von Blüten ins Zimmer. Unten im Garten wuchsen Mittagsgold, Astern, Begonien, Zinnien, Gardenien, Jasmin, Lavendel und Rosen in sorgfältig angelegten Beeten. So wie Ellie es liebte. Ihre Großmutter hatte schon immer einen grünen Daumen besessen.
Daheim, dachte Hannah. Endlich wieder daheim. Es war ein seltsames Gefühl, nach all der Zeit wieder hier zu stehen. Der Ruf eines Käuzchens erklang, und irgendwo in der Nachbarschaft schlug ein Hund an. Vertraute Geräusche. Als hätte sich nichts geändert. Und doch war alles anders. Hannah legte beide Hände auf ihren Leib, in dem das winzige Leben heranwuchs. Morgen würde sie sich ein Herz fassen und mit Ellie reden. Ellie wusste immer, was das Beste für alle war, oder nicht? Hannah schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, das Kind auf Fairview großzuziehen.
Ein Summgeräusch holte sie in die Gegenwart zurück. Es war das Handy auf dem Nachttisch. Sie schnappte es sich. Helen! Du liebe Güte, sie hatte versprochen, die Freundin anzurufen, sobald sie auf Fairview war. »Hey! Wie schön, dass du dich meldest. Ich weiß, eigentlich hätte ich dich längst …«
»Hannah«, unterbrach Helen sie. Es entsprach nicht Helens Art, andere nicht aussprechen zu lassen. Hannahs Herz schlug ein paar Takte schneller. Etwas musste passiert sein. Mike! Sie sank auf die Bettkante nieder und wappnete sich für das, was jetzt kommen würde. »Mike ist – Mike hat die –« Helen brach in Tränen aus.
O nein! Helens Mann war gestorben. »Helen. O Gott.« Hannah fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. »Soll ich zu dir
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