Hannahs Entscheidung
sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Jenseits des Fensters im Klinikgarten blühten Rhododendronbüsche in leuchtendem Fuchsia. Eine junge Frau in Schwesterntracht kauerte rauchend auf einer Bank im Schatten einer mit Feenhaar behangenen majestätischen Eiche. »Es geht um das Baby. Ich denke darüber nach, das Kind wegzugeben«, sagte Hannah leise. Die Schwester warf ihren Glimmstengel auf den Kies und trat ihn mit der Schuhspitze aus. Hannah hörte Ellie nach Luft schnappen. Einen Augenblick dröhnte die Stille in ihren Ohren.
»Du würdest es dein Leben lang bereuen, wenn du das Kind nicht behältst«, äußerte Ellie schließlich behutsam. »Niemals mehr kämst du zur Ruhe, weil du dich immer und immer wieder fragen würdest, ob du die richtige Entscheidung getroffen hast. Mehr kann ich dazu nicht sagen, Liebes. Es ist dein Leben. Ich hoffe nur, du wirst später nichts bedauern.«
Hannah wagte es, ihrer Großmutter ins Gesicht zu sehen. »Seit Shane trinkt, ist er … er hat mich geschlagen, Nana. Wie kann ich das Kind eines solchen Mannes großziehen?«
»Wie kannst du es nicht? Es ist dein Fleisch und Blut.« Ellies Augen verdunkelten sich wie der Himmel von Carolina vor einem Gewitter.
Hannah konnte den stillen Vorwurf in Ellies Blick kaum ertragen. Erneut wandte sie sich ab. Inzwischen hatte sich ein Pfleger zu der jungen Schwester auf die Bank gesellt. Die Frau redete unaufhörlich auf ihn ein, während sie wild mit den Händen gestikulierte. Ihrem unglücklichen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, stritten die beiden. Hannah schloss für einen Moment die Lider. Wenn sie nur wüsste, was sie machen sollte! Je weiter die Schwangerschaft voranschritt, desto schwerer schien es ihr, eine Entscheidung zu fällen. Und dann war da auch noch Sam. Wie würde er reagieren, was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass sie ein Kind erwartete? Aber vielleicht war es auch völlig egal, was Sam dazu sagen würde. Vielleicht interessierte es ihn nicht. Vielleicht hatte sie all die kleinen Zeichen seiner Zuneigung in der letzten Zeit missdeutet. Vielleicht hatte er nur geflirtet, wie es Männer nun einmal gern tun. Ihr sank das Herz.
Plötzlich erstarrte sie. Etwas Merkwürdiges ging in ihrem Unterleib vor. Ein sanftes Blubbern, so als ob eine Seifenblase zerplatzte. Wie das Gefühl von prickelnder Brause, die auf der Zunge verging. Hannah hielt ganz still, um in sich hineinzuhorchen. Nein, sie hatte sich geirrt. Da war nichts. Vermutlich hatte sie sich das Ganze nur eingebildet. Sie war empfindlich geworden in der letzten Zeit, stellte sie nicht zum ersten Mal fest. Aber da tauchte es erneut auf. Ein winziges Zittern. Der Flügelschlag eines Schmetterlings. O mein Gott. Was in aller Welt war das? Eine Hand auf ihren Leib pressend drehte sie sich zu Ellie um.
»Hannah, meine Güte, was ist mit dir? Geht es dir nicht gut? Ist etwas mit dem Kind?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, da war so ein merkwürdiges Gefühl in meinem Bauch. Eine Art Flattern.« Sie sah an sich hinab. »Als ob sich dort unten etwas bewegen würde.«
In Ellies Augen trat ein sanfter Ausdruck. »Nun, es wäre zwar etwas früh, aber ich vermute, dass dieses kleine Zittern, das du verspürst, von deinem Baby stammt.«
Hannah schlug die Hände vor den Mund. Dieses winzig kleine Zittern, dieser Hauch von einer Bewegung war ihr Kind?
»Das Baby ist ein Mitchell, Hannah. Genau wie ich, Holly oder du. Es ist eines von uns.«
Hannah versuchte, ruhig zu atmen, während sie die Worte ihrer Großmutter sacken ließ.
Ellies Gesicht legte sich in tausend Fältchen. »Denkst du nicht, das war ein Zeichen? Wie kannst du dieses kleine Wesen, das in dir heranwächst, von dir stoßen wollen?«
Wie in Zeitlupe schüttelte Hannah den Kopf. Ihr war, als hätte sich plötzlich ein Schleier gelüftet. Als hätte jemand in einem dunklen stickigen Raum die schweren Vorhänge beiseitegeschoben und das Fenster weit geöffnet, um helles Sonnenlicht hereinströmen zu lassen. Ellie schenkte ihr ein aufmunterndes Nicken. Hannah stürzte in ihre ausgebreiteten Arme. Schniefend vergrub sie das Gesicht an ihrer Schulter.
»Willkommen zurück.« Tayanita trocknete ihre nassen Hände an der Schürze, wobei sie Hannah prüfend musterte. »Du wirkst verändert. Deine Augen funkeln. Wie geht es dir? Und vor allem, wie geht es deiner Großmutter?«
Hannah setzte ihre Reisetasche auf dem Küchenboden ab und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ihrer
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