Hannahs Entscheidung
war.
»Das werde ich. Am liebsten wäre ich schon vor Wochen nach Charlotte gefahren. Aber ich habe mich einfach nicht getraut, mit dir Kontakt aufzunehmen. Schließlich haben wir uns neun lange Jahre nicht mehr gesehen. Ich habe mich geschämt, Nana .«
»Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst, Liebes. Wir waren beide stur. Jede auf ihre Weise. Es ist schade, dass so viel Zeit vergehen musste, die nun unwiderruflich verloren ist. Wichtig ist jetzt nur, dass du dich gemeldet hast. Wir können über alles sprechen, wenn du da bist, Herzchen.«
Herzchen. So hatte Ellie sie schon ewig nicht mehr genannt. Am liebsten hätte Hannah ihre Großmutter auf der Stelle umarmt. »Möglicherweise wird es noch ein bisschen dauern, bis ich bei dir bin, Nana .«
»Weshalb?«
Hannah knabberte an ihrer Unterlippe. Sie wollte Ellie nicht beunruhigen. »Es gab einen Unfall. Mir ist nichts passiert«, beruhigte sie ihre Großmutter schnell, als diese hörbar die Luft einzog. »Es ist nichts Schlimmes geschehen. Nur ein Blechschaden. Die Werkstatt muss allerdings die beschädigten Teile bestellen, und das kann bis zu zwei Tage dauern, sagte man mir. Sobald der Wagen repariert ist, mache ich mich auf den Weg.« Sie würde gleich bei Joe nachhören, wie der Stand der Dinge war.
»Du liebe Güte. Aber sag, wo in aller Welt bist du?«
»Das Städtchen nennt sich Willow Creek. Irgendwo mitten im Niemandsland, an einem gleichnamigen Flüsschen mit herrlicher Aussicht auf die Blue Ridge Mountains gelegen. Ich habe mich verfahren.«
»Willow Creek«, murmelte Ellie. »Möglich, dass wir früher dort einmal auf dem Weg in die Berge vorbeigekommen sind. Erinnerst du dich an die Sommer, die wir oben in Blowing Rock verbracht haben?«
»Natürlich.« Wie könnte Hannah diese wunderbare Zeit je vergessen? Oben in den Bergen war es ihr zum ersten Mal wieder leicht gefallen, zu atmen, und nicht gleich in Tränen auszubrechen, wenn sie über ihre Eltern sprachen. »Diese Sommer werde ich nie vergessen, Nana .«
»Ich bin froh, dass du unverletzt bist, Kind.«
Ein Gefühl der Zärtlichkeit für die alte Dame durchströmte Hannah. Egal, wie alt sie war, für ihre Großmutter würde sie immer ein Kind bleiben. »Ich vermisse dich.«
»Mir geht es nicht anders. Am liebsten hätte ich dich sofort bei mir. Aber es sind ja nur ein paar Tage. Und dann bist du hier. Ich kann es kaum erwarten.«
»Wir sehen uns bald«, sagte Hannah. Mit einem leisen Lächeln beendete sie die Verbindung.
*
Während sie Zwiebeln, Karotten, Sellerie und Champignons für den Eintopf schnippelte, glitten Eliza Maes Gedanken zurück in die Vergangenheit. Sie fand sich auf dem Holzschemel stehend am Herd in der Küche ihres Elternhauses in der Limehouse Street in Charleston wieder, wo sie Estelle zur Hand ging. Die schwarze Köchin hatte immer behauptet, kochen helfe ihr beim Nachdenken. Wenn sie über etwas gegrübelt hatte, hatte sie das Feuer im Herd geschürt, nach dem Kochlöffel gegriffen und gebacken und gebraten, was das Zeug hielt. Manchmal hatten die Dubois’ derart viele Braten und Kuchen in der Vorratskammer stehen, dass Augusta Dubois, Elizas Mutter, sich gezwungen sah, der Suppenküche in Charleston einen Besuch abzustatten. Was sie jedoch, obwohl sie Estelles Koch- und Backwut mitunter missbilligend mit dem Hochheben einer fein gezupften Augenbraue quittierte, sehr gern machte. Augusta, als Vorstandsmitglied der St. Michael’s Kirchengemeinde, war stets bemüht, nach dem Motto der Nächstenliebe zu handeln.
Die junge Eliza Mae bewunderte die Einstellung der warmherzigen, klugen Schwarzen, die seit ihrer Geburt zu einem festen Bestandteil von Orchard House zählte, und hatte sich deren Angewohnheit im Lauf der Jahre zu eigen gemacht. Wann immer sie in Ruhe ihre Gedanken sortieren wollte, zog sich Eliza in die Küche zurück.
Das Telefongespräch mit Hannah hatte sie aufgewühlt. Einerseits war ihr Herz von Freude erfüllt, endlich ein Lebenszeichen von ihrer Enkelin erhalten zu haben. Doch sie hatte die unterschwellige Panik in Hannahs Stimme vernommen. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Kind. Sie hatte ihren Mann verlassen. Eigentlich müsste sie erleichtert wirken und gelöst. Betrübt möglicherweise. Doch sie schien Angst zu haben. Aber vor was – oder wem? Shane? Es war nun einmal eine Tatsache, dass Eliza Shane Mulligan schon immer suspekt gewesen war. Sie hatte ihm nicht getraut. Oberflächlich betrachtet war er ein harmloser junger
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