Hannahs Entscheidung
dass sie es sich leisten konnte, an manchen Tagen die alte einsame Becky Walker, die vor Langeweile fast umkam, weil sie nichts anderes zu tun hatte, als für Willow Creeks Kirchenbasare Kuchen zu backen, als Aushilfe zu beschäftigen. Natürlich bevorzugten es ihre Kunden, wenn Violet sie höchstpersönlich bediente. Denn auch wenn Becky ihre Sache ganz gut machte, so erschwerte ihre leichte Schwerhörigkeit zuweilen die zwischenmenschliche Kommunikation. So war es hin und wieder, was Violet sehr bedauerte, zu Fehlinformationen und dem Verbreiten falscher Nachrichten gekommen. Wer zu Violet Hunter einkaufen kam, konnte sich in der Regel darauf verlassen, mit wichtigen Neuigkeiten aus Ort und Umgebung versorgt zu werden. Violet sah ein, dass sie unabdingbar war. Sie wurde hier gebraucht.
Tief in ihrem Inneren ahnte sie, sollte es je dazu kommen, dass sie es sich leisten könnte, ihre lang ersehnte Auslandsreise anzutreten, würde es ihr schwerfallen, Willow Creek zu verlassen. Und wer wie Violet unter gelegentlichen Panikattacken und Flugangst litt, kam sowieso gewöhnlich nicht weiter als Tryon, Campobello oder Columbus. Einmal hatte sie eine Busreise nach Spartanburg gewagt, doch mitten in einer Einkaufsmall erlitt sie einen panischen Anfall und musste sich ein Taxi nach Hause nehmen. Vielleicht war es ihr Schicksal, ihr ganzes Leben im idyllischen Willow Creek zu verbringen. Das Leben, das sie hier führte, war weiß Gott nicht schlecht. Wenn nur Herb nicht so früh von ihr gegangen wäre … Das schrille Bimmeln der Türglocke riss Violet zurück in die Gegenwart.
*
Hannah hatte das Gefühl, als wäre sie soeben in eine Filmkulisse von Unsere kleine Farm hineinkatapultiert worden. War dies hier nicht Harriet und Nels Oleson‘s Krämerladen ? Auf einer langen Theke teilten sich eine altmodische Registrierkasse und etliche, fein säuberlich aufgereihte Bonbonnieren, in denen in buntes Stanniolpapier eingewickelte Süßigkeiten lagerten, den Platz. Holzregale entlang der Wände enthielten eine bunte Mischung aus Konserven, Verpackungen und Schachteln. Eine kleine Tiefkühltruhe und ein Obststand in der Nähe des Eingangs vervollständigten das Mobiliar. Es duftete nach frischem Backwerk, geräuchertem Schinken und Orangen. Ach, die heile Welt von Walnut Grove. Über Hannahs Gesicht huschte ein Lächeln. Sie dachte daran, wie sie früher jeden Samstagnachmittag gemeinsam mit Ellie die Abenteuer der Familie Ingalls verfolgt hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine füllige Dame um die sechzig näherte sich ihr in einem geblümten Schürzenkleid, das den siebziger Jahren zu entstammen schien.
Hannah bemühte sich, den gewaltigen Busen zu ignorieren, der bedrohlich auf sie zuwogte. »Ah, guten Tag.«
»Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Ich glaube, ich habe Sie noch nie zuvor gesehen.« Flinke helle Augen musterten sie kritisch, blieben schließlich an ihrer rechten Wange haften.
»Nein. Bin ich nicht.« Hannah neigte leicht ihren Kopf. Ihr war es unangenehm, wie die Fremde sie taxierte.
»Wo kommen Sie her? Suchen Sie etwas Bestimmtes? Wenn Sie Fragen haben, sprechen Sie mich ruhig an. Ich bin Violet Hunter.« Violet zupfte an ihrem kurzen grauen Haar.
»Ich möchte mich gern umsehen, danke schön.«
»Bitte. Tun Sie das.«
Hannah spürte, dass die Frau nur zu gern mit ihr geplaudert hätte. Aber schließlich war Hannah nicht hier, um Bekanntschaften zu schließen oder neue Freunde zu finden. »Haben Sie zufällig Zahncreme in Ihrem Sortiment?«
»Alles, was wir an Mundhygieneartikeln führen, finden Sie dort hinten im Regal.« Violet klang leicht verschnupft. Sie hatte sich bestimmt mehr von Hannah erhofft, als die simple Frage nach Zahncreme. Aus einer Tasche ihres Kleids zauberte sie einen mausgrauen Putzlappen, mit dem sie die blitzblanke Oberfläche des Tresens noch blitzblanker polierte. Hannah wanderte unter ihren aufmerksamen Blicken an den Regalen entlang. Sie fand den gewünschten Artikel, doch nach ihrem Puder suchte sie vergeblich. Sie wandte sich zu Violet um. »Ich nehme nicht an, dass Sie Make-up oder dergleichen führen?«
»Natürlich«, erwiderte Violet pikiert. »Wir erfüllen fast jeden Wunsch. Warten Sie bitte einen Moment.« Achtlos warf sie den Lappen auf den Tresen, um anschließend hinter einem dicken Samtvorhang zu verschwinden. Hannah hörte Stuhlbeine über den Boden schrammen und Schranktüren quietschen. Mit hochrotem Kopf trat Violet zurück in den Laden, in den
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