Hannahs Entscheidung
»Versuchen Sie nicht mehr zu sprechen. Ihr Körper muss sich erholen.« Sie wandte sich zum Gehen, aber Eliza gelang es, sie am Zipfel ihres veilchenblauen Kittels zu fassen. Die winzige Bewegung war für sie schon ein Kraftakt. Sie brach in kalten Schweiß aus.
»Muss Hannah sprechen …« Sie keuchte vor Anstrengung. Ihr Bett begann sich zu drehen wie ein Karussell. Erst langsam, dann schneller und schneller. Eine Welle der Übelkeit schwappte über sie. Sie schluckte hart und schloss erneut die Lider.
»Nicht jetzt«, hörte sie die Schwester sanft, aber bestimmt entgegnen. »Sobald es Ihnen besser geht. Schlafen Sie. Ich werde später wieder nach Ihnen sehen.« Die Tür fiel leise ins Schloss.
Eliza lauschte den gedämpften Schritten, die sich rasch entfernten. Was hatte Jane über Hannah gesagt? Ach, es fiel ihr unendlich schwer, sich zu konzentrieren. Sie war so müde, so entsetzlich müde. Ihr rechter Arm zuckte. Sie begann zu fallen, ins Bodenlose, Dunkle, das sie willkommen hieß und einhüllte wie eine schwere Decke. Widerstandslos ließ sie sich mit in die Tiefe ziehen. Während sie in diesen merkwürdigen Zustand, in dem man nicht mehr ganz wach, aber auch noch nicht gänzlich eingeschlafen war, hinüberglitt, flammten Erinnerungen auf, die wie Glühwürmchen durch ihr Bewusstsein flimmerten. Sie sah ihre Tochter Holly auf sich zulaufen. Holly als kleines Mädchen mit fröhlich hin- und herschwingendem Pferdeschwanz und einem süßen Lachen, das eine riesige Zahnlücke freilegte. Ein wärmendes Glücksgefühl strömte durch Elizas geschundenen Körper. Mommy! Lachend fiel die Kleine in ihre ausgebreiteten Arme.
»Meine Holly«, murmelte Eliza glücklich, während sie ihr verlorenes Kind an die Brust presste.
*
Sylvia backte in der Küche ihren legendären Mississippi Mud Pie. Aber auch wenn Tayanita schwor, dass Sylvias samtige Sahnepuddingauflage wie zart schmelzender Schnee auf der Zunge verging, konnte sich Hannah nicht vorstellen, auch nur einen Bissen hinunterzubringen. Ein paar Mal noch hatte sie versucht, Ellie zu erreichen, doch vergeblich. Die alte Dame schien wie vom Erdboden verschluckt. Seit ungefähr drei Stunden saß Hannah nun wie auf glühenden Kohlen, während sie darauf wartete, dass sich Sam meldete. Durch das Café wehte ein köstlicher Schokoladenduft. Ein männlicher Gast, den sie soeben mit einem Pott Kaffee versorgt hatte, hob schnuppernd den Kopf.
»Holy shit, riecht das lecker hier«, brummte er in seinen Bart.
»Sie können gern später ein Stück probieren, Dave. Sie müssten nur warten, bis der Kuchen fertig ist«, rief Tayanita ihm von der Theke aus lachend zu.
»Geht leider nicht, Ma’am. Die Jungs auf der Baustelle zählen auf mich. Aber vielleicht ist noch etwas übrig, wenn ich morgen wieder in meinem Lieblingscafé vorbeischaue.« Dave hob augenzwinkernd seinen Becher in die Runde.
Hannah rang sich ein Lächeln ab. Ihre Nerven waren gerade bis zum Zerreißen gespannt. Sie fragte sich die ganze Zeit, ob Shane Ellie in Charlotte aufgesucht hatte, oder ob er sich in Willow Creek herumtrieb und vielleicht sogar jeden Augenblick ins Cottage Garden hereinschneite. Ihr nervöser Blick irrte zur Tür. Sie schrak zusammen, als ihr Handy klingelte. »Sam wird gleich da sein«, sagte sie wenig später zu Tayanita, ihre Stimme bebend vor Aufregung.
»Hoffen wir, dass er gute Neuigkeiten mitbringt«, erwiderte Tayanita leise.
»Sam!« Noch nie zuvor war sie so froh gewesen, ihn zu sehen. Sie flog förmlich auf ihn zu. »Haben Sie etwas in Erfahrung bringen können? Hat Ihr Freund etwas herausgefunden? Wo ist meine Großmutter, wie geht es ihr?« Die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund. Gebannt starrte sie auf seine Lippen.
Seine Augen scannten den Raum und die Gäste darin. »Lassen Sie uns draußen ein paar Schritte gehen.« Er berührte ihren Ellenbogen, um sie sanft zum Ausgang zu lotsen. Seine Miene verriet nichts. Hannah warf im Vorbeigehen einen fragenden Blick in Tayanitas Richtung, doch ihre Freundin hob ratlos die Schultern und deutete mit einem Kopfschütteln an, dass auch sie ahnungslos war. Was Sam wohl herausgefunden hatte? Hannahs Herz klopfte zum Zerspringen, als sie auf die Straße traten. Sie hatte Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
»Sam! Bitte sagen Sie doch etwas!« Sie griff nach seinem Arm. Endlich blieb er stehen.
Er drehte sich, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte, bedeckte ihre Hand mit seiner. Seine Finger
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