Hannas Entscheidung
fahren.
»Okay, das reicht. Ich fahre euch ins Krankenhaus. Hanna, geh hoch und hol meinen Autoschlüssel, er hängt ...«
»... am Schlüsselbrett hinter der Wohnungstür, ich weiß.«
Er nickte, durchbohrte sie förmlich mit dem Blick aus seinen nebelgrauen Augen. Dachte er, dass sie sein Auto schnappen und abhauen würde, während ihr Patenkind auf die Welt kam?
»Fahrt nur. Ich komme direkt hinterher. Welches Krankenhaus?«
»Charité«, antwortete Tom für Ben.
Als Hanna auf der Station ankam, saß Ben allein im Wartezimmer. Sie setzte sich zu ihm und gab ihm seinen Autoschlüssel. »Alles klar?«
»Ja, Tom hat sich auch beruhigt, seit er die Herztöne vom Baby auf dem Monitor beobachten kann. Sie haben einen Ultraschall gemacht, und Lisa hängt am Wehentropf.«
»Haben sie dich rausgeworfen?«
»Nein, ich wollte auf dich warten.«
»Ich darf mit rein?«
»Ja, Lisa bringt mich um, wenn ich dich nicht zu ihr bringe.«
»Worauf warten wir?«
Verblüfft sah sich Hanna in den Raum um, der so gar nichts von einem Krankenhaus an sich hatte. Eher konnte so das Wohnzimmer einer Esoterikerin aussehen. Im Raum hörte man Chill-out-Musik, die an Indien erinnerte. Die Luft roch nach irgendwelchen Duftessenzen, die sie nicht einordnen konnte. Es gab einen Ball, Stühle, ein Sofa, eine Art Untersuchungsstuhl, der ein wenig wie der beim Frauenarzt aussah, und ein Bett. Das Licht war gedimmt. Durchsichtige Seidenvorhänge an den Fenstern vermittelten den Eindruck von Leichtigkeit.
Tom lag neben Lisa auf dem Bett. Während er sie streichelte, wanderte sein Blick immer wieder zu dem Monitor, der die Herztöne anzeigte.
»Nett hier«, Hanna grinste, »und wo sind Kaffee und Kuchen?«
Die werdende Mutter lachte und verzog sofort schmerzvoll das Gesicht. »Untersteh dich, es dir gemütlich zu machen, während ich hier Schwerstarbeit leiste«, brachte sie schließlich hervor.
Hanna setzte sich nah zu Lisa. »Für was ist das hier alles?« Sie würde es mit einfachen Fragen und interessiertem Zuhören schon schaffen, die beiden von ihrer Angst vor dem, was ihnen bevorstand, abzulenken.
Ben schwieg und beobachtete seine Schwester, wie sie von ihrem Mann den Rücken gestreichelt bekam und Hannas Hand hielt. Er konnte fühlen, wie Ruhe den Raum auszufüllen begann und spürbar Konzentration einkehrte. Es war nicht die erste Geburt, die er miterlebte. Er erinnerte sich an ein Dorf in Afghanistan, wo er und ein Sanitäter einer Frau geholfen hatten, Zwillinge zur Welt zu bringen. Mitten im Kampf, mitten im Tod gab es neues Leben, neue Hoffnung.
Immer wieder schickte die Hebamme sie für kurze Zeit aus dem Raum. Jedes Mal schien Lisa dann blasser zu sein und intensivere Wehen zu haben. Schließlich war es so weit. Ben und Hanna sollten draußen warten.
Hanna nahm Lisas Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. »Nur noch ein bisschen, dann hältst du ihn im Arm.«
Ben sah, wie ihre Berührung und ihre Worte seiner Schwester Kraft gaben. »Lass uns nicht so lange warten.« Er umarmte sie vorsichtig.
»Habe ich nicht vor.«
Ihre Arbeit und die Schmerzen durch die Wehen waren deutlich erkennbar. Woher nahm Lisa die Stärke? Insgeheim war Ben froh, dass Männer niemals diesen beängstigenden Geburtsvorgang durchstehen mussten, dem man so wehrlos ausgeliefert war, wenn er einmal begonnen hatte. Er beneidete Tom kein bisschen.
»Kaffee?«, fragte er Hanna, die sich auf einem Stuhl im Wartezimmer niedergelassen hatte.
»Ja.«
Endlich konnte er etwas machen. Als er zurückkam, blätterte Hanna in einem Buch. Er ließ sich neben ihr nieder und reichte ihr den Kaffee. Deutete auf das Buch. »Ganz schön beängstigend.«
Es war ein Buch, in dem Schwangerschaft und Geburt ausführlich beschrieben waren.
»Die Erbsünde?«
Verständnislos zog er die Augenbrauen zusammen.
»Na ja – Eva hat Adam verführt.«
»Und?«
»Deshalb müssen Frauen unter Schmerzen Kinder zur Welt bringen.«
»Ich dachte, sie wären als Folge aus dem Paradies vertrieben worden.«
»Ja, das auch.«
»Sie schlägt sich tapfer.«
Hanna hörte seinen Stolz auf die kleine Schwester heraus. »Ja, kein Laut kam über ihre Lippen.«
»Sie ist tough.« Ben nickte.
»Hast du jemals dran gezweifelt?«
»Nein, sie war schon immer die Stärkere von uns zweien.«
Hanna musste lachen. »Ich denke, du bist als Bruder auch okay.«
Er boxte sie auf den Arm. »War das jetzt ein Kompliment?«
»Ein winzig kleines«, gab sie zu und
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