Hannas Entscheidung
Hände mit fünf zarten Fingerchen, die unglaublich fest zugriffen und über allem das Glück von zwei Eltern, die ihren Sohn betrachteten, als wäre er das achte Weltwunder.
»Möchtest du ihn mal halten?« Lisa sah Hanna mit strahlendem Lächeln an.
Hanna schluckte, fühlte ihren Herzschlag sich beschleunigen und nahm vorsichtig das Baby entgegen, ließ sich von der Mutter zeigen, wie sie es halten musste. So leicht fühlte sich das Kind an, so hilflos lag es in ihren Armen und doch so vollkommen.
»Na du kleiner Mann, was hältst du von dieser Welt?«
»Du solltest mit weniger philosophischen Fragen anfangen«, empfahl Ben, der sich zu Hanna gestellt hatte und über ihre Schulter seinen Neffen betrachtete.
Sie lachten alle.
»Möchtest du ihn halten?«
»Klar.« Ben nahm ihr das Baby ab, als würde er das jeden Tag zigmal tun.
Hanna stutzte. »Wieso kannst du das?«
»Ben hat schon Kinder zur Welt gebracht«, erklärte Lisa.
Ben grinste, sah Hanna aber nicht an. Stattdessen küsste er seinen Neffen auf die Stirn und rubbelte seine Nase an dem weichen Flaum auf seinem Köpfchen, was das Neugeborene mit brummenden Lauten kommentierte.
»Pusch ihn nicht so auf«, schimpfte Lisa, »er soll schlafen.«
»Und wie soll er heißen?«
»Nathanael.« Tom grinste ihn an.
»Nathanael? Wie seid ihr denn da drauf gekommen?«
Tom und Lisa sahen Hanna an.
Etwas verlegen zuckte sie mit den Achseln. »Es ist ein hebräischer Name und heißt Gabe Gottes oder Gottesgeschenk.« Mit dem Zeigefinger streichelte sie dem Baby über die Wange, das so zart aussah in Bens Armen. Nathanael hätte sich keinen besseren Onkel aussuchen können. Seine Arme boten Halt, seine breite Brust Schutz. Hanna sah bereits im Geist, wie die beiden sich wild über den Boden wälzten. Sie hob den Kopf und sah direkt in Bens nebelgraue Augen. Für einen Moment blieb die Welt stehen. Ihr Herz machte ein Satz und ihre Knie gaben ein wenig nach. Hastig wandte sie sich Tom und Lisa zu. »Vor lauter Baby habe ich euch noch gar nicht gratuliert.«
Es war eigentlich nicht ihre Art, Menschen zu umarmen. Ein wenig unwohl fühlte sie sich bei Tom, doch das legte sich, als er sie fest in seine Arme nahm und ihr ins Ohr flüsterte: »Danke. – Danke für alles.«
Ben legte seinen Neffen zurück in die Arme seiner Schwester, drückte Lisa ebenfalls und küsste sie auf beide Wagen und die Stirn. »Tolle Leistung, Schwesterchen. Und ich dachte, du würdest das ganze Krankenhaus zusammenbrüllen.«
Lisa boxte ihn in den Arm. »Ich bin doch kein Weichei!«
»Nein, bist du nicht.« Er langte in seine Hosentasche und gab seinem Schwager den Autoschlüssel zurück. »Wir beide machen uns jetzt auf den Weg. Lasst es langsam angehen. Braucht ihr was?«
Wir , dachte Hanna. Seit wann betrachtete er sie beide als Einheit?
»Nein, wir haben alles da. Aber wenn uns noch was einfällt, melden wir uns.«
Schweigend gingen sie zum Auto, und Hanna gab ihm den Schlüssel. Im Auto versuchte sie, ihre Gefühle und Gedanken zu sortieren. Sieöffnete das Schloss der goldenen Kette, die sie seit dem Tag, als sie sie von Oberst Hartmann angenommen hatte, nicht abgelegt hatte.
»Was machst du da?«
»Es ist das Kreuz deiner Mutter.«
»Ja.«
»Ich kann das nicht annehmen.«
»Du hast es angenommen.«
»Ja, aber da kannte ich nicht die Geschichte dahinter. Es gehört deinem Vater, dir, Lisa oder Nathanael – nicht mir.«
»Mein Vater hat sie mir geschenkt, als ich zu meinem ersten Auslandseinsatz musste, und ich habe sie dir geschenkt.«
Sie starrte auf die Kette in ihrer Hand, schüttelte den Kopf. Seine Hand legte sich auf ihre und schloss ihre Finger um die Kette. »Ich möchte, dass du sie trägst.«
»Natha...«
»Nein. Er bekommt eine neue. Von mir aus auch von dir.«
Er ließ sie los, um einen Gang runterzuschalten. Ein flüchtiger Seitenblick traf sie.
»Bitte.«
Die Kette fühlte sich in ihrer Hand warm an. Sie war in all den vergangenen Monaten ihre Verbindung zu ihm gewesen. Nun war ihr auch klar, weshalb das Gefühl so intensiv gewesen war. Dass er ihr kein neues Kreuz geschenkt hatte, wusste sie vom ersten Augenblick, als sie die Kette gesehen hatte. Sie hatte Kratzer und Spuren, als habe jemand sie häufig in der Hand gehalten und gerieben. Hanna seufzte, legte sich die Kette an.
»Versprich mir, dass du es mir ehrlich sagst, wenn du sie zurückhaben möchtest.«
»Versprochen. Lust auf einen Kaffee?«
Bevor sie antworten konnte, bog er in eine
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