Hannas Entscheidung
trug eine rahmenlose Brille, aber am meisten erschreckten Hanna die tiefen Falten um seine Augen und Mundwinkel. Er sah sie auf der Couch sitzen und kam langsam auf sie zu, nicht mit dem typischen mürrischen Gesichtsausdruck, wie sie es kannte, wenn er in seiner Arbeit gestört wurde. Mit einer zurückhaltenden Geste wollte er ihr die Hand zum Gruß reichen.
Hanna hatte es nicht geplant. Wie von selbst umschlangen ihre Arme seinen Nacken und zogen Winter dicht an sich. »Es tut mir so leid, Harry, es tut mir so furchtbar leid. Ich hätte nie gedacht ...« Sie brach ab. Ihr Heulen brachte sie selber aus der Bahn.
Harry versteifte sich. Er griff nach ihren Armen, löste sie aus seinem Nacken. So viel Schmerz stand in seinem Blick, als er sie von sich schob, sie mit einem Kopfschütteln betrachtete. »Nein.«
Sofie stand hinter ihm im Türrahmen, die Hand vor dem Mund geschlagen, Tränen im Gesicht. »Hanna?«
»Ja.« Sie nickte, ließ Harry nicht aus den Augen.
Zitternd fuhr seine Hand durch Hannas Haare. Dann trat er zum Sessel und ließ sich niederfallen.
Hanna kniete sich hin, nahm seine Hand. »Harry, es ging nicht anders. Er hat versucht, mich zu töten, und wäre Ben nicht da gewesen ... Sie wollten, dass ich eine Aussage mache, und darum mussten sie mich schützen. Deshalb mein vorgetäuschter Tod. Ich sollte ein neues Leben anfangen, aber ...«
Er legte ihr die Fingerspitzen auf den Mund »Schscht. Gib mir einen Moment.«
Sie schwieg, während er ihr Gesicht erforschte. Jeden Millimeter. Seine Finger strichen über eine winzige Narbe an ihrer Stirn. Die hatte sie sich zugezogen, als sie einen Berghang hochgeklettert und im Geröll den Halt verloren hatte. Schon damals zeigte sich, dass Hanna einen harten Schädel hatte. Harry war dabei gewesen und hatte ihr die spitzen Steine aus dem Gesicht gepickt. Jetzt glitzerten Tränen in seinen Augen.
Zitternd zog er die Luft ein und ein lächelte vorsichtig. »Ich hätte es doch wissen müssen –, dass man dich nicht so leicht kaputt kriegt.« Er zog sie in die Arme und hielt sie fest.
Es brauchte keine Worte mehr zwischen ihnen. Harry hatte ihre Wortkargheit und ihr Schweigen immer akzeptiert. Er wusste, was sie fühlte. Sie wusste, wie weh sie ihm getan hatte und dass sie die Verantwortung trug für die scharfen Linien in seinem Gesicht. Doch noch viel mehr spürte sie seine unermessliche Erleichterung, dass sie lebte, und keine Wut über ihre Lüge.
Hanna löste sich aus Harrys Umarmung, setzte sich zurück auf die Couch und sah Sofie verloren im Raum stehen, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Harry folgte ihrem Blick, stand auf, ging zu seiner Frau und zog sie in die Arme. Sie verbarg ihren Kopf mit einem zitternden Seufzer an seiner Schulter. Zärtlich küsste er ihren Kopf.
Er lachte, dabei klang Unsicherheit durch. »Eigentlich würde das ja nach etwas Alkoholischem verlangen zum Feiern, aber ich muss gestehen, in den letzten Monaten vermeide ich alles, was Alkohol enthält.«
Sofie richtete sich auf. »Ich hole uns etwas zum Feiern.«
»Weißt du, irgendwie habe ich es tief in meinem Innern gewusst, dass du nicht tot bist. Ich glaube, diese innere Zerrissenheit war mein Problem. Vor einem Grab zu stehen mit deinem Namen drauf und zu denken, dass das nicht sein kann. Dass ich es merken müsste, wenn es dich nicht mehr gibt. Und dann die Frage, ob alles anders verlaufen wäre, wenn wir damals in Nigeria nicht die Schwester von Ochuko besucht hätten – wenn ich einfach Nein gesagt hätte.«
»Harry ...«
»Wusstest du, dass er gar nicht für uns als Fahrer eingeplant gewesen war? Ich werde nie vergessen, wie er zu mir kam und mich fragte, ob du Marie Benner wärest, CMO von Medicare. Ich sagte, nein, du seist die Zwillingsschwester.«
»Wann hat dich Ochuko das gefragt?«
»In der Agentur, als wir die Details der Tour mit unserem Guide besprachen. Weißt du Hanna, ich glaube, er hatte von Anfang an vor, dich und seine Schwester zusammenzubringen. Nur verlief es am Ende anders, als er es geplant hatte.«
»Aber der Guide ...«
»... ist krank geworden, ich weiß. Angeblich war es ein Zufall, dass Ochuko kurzfristig für ihn einspringen konnte. Aber all die Gespräche, die wir mit ihm geführt haben über das Land, die Politik, die Zustände und die Korruption, das war nicht unbedingt, was wir beide von jemandem erwartet haben, der uns die Umweltschäden infolge der Erdölförderung im Nigerdelta zeigen sollte. Findest du nicht?«
Hanna
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