Hannas Entscheidung
stecken.«
»Danke für den Tipp.«
»Gib ihnen Zeit, ihren Job zu erledigen.«
»Und du denkst, das funktioniert diesmal?«
»Ja – du hast ihnen genug gegeben, womit sie arbeiten können.«
»Also, was willst du von mir?«
»Das weißt du.«
»Eine Mitfahrgelegenheit?«
Er lächelte. »Fürs Erste.«
Hannas Fahrt nach Hamburg dauerte knapp drei Stunden. Sie kamen erstaunlich zügig durch den Verkehr, parkten vor dem Haus der Familie Winter. Hanna war unschlüssig über ihre nächsten Schritte. Auf der Beifahrerseite machte es sich ihr Onkel gemütlich, holte eine Thermoskanne heraus, ein Vesper und ein Buch.
»Was soll das werden?«
»Wonach sieht es aus?«
»Willst du nicht mit reinkommen?«
»Nein.«
»Erst bestehst du darauf, mich zu begleiten, dann bleibst du sitzen?«
»Das ist ein Weg, den du allein gehen musst, und vergiss nicht, dass sie denken, du wärest tot.« Damit vertiefte er sich in seine Lektüre.
»Sollte dir kalt werden – du weißt, wo ich bin.«
Er grinste, ohne sie anzusehen. »Das Auto hat Standheizung.«
Mit einem Seufzer schnappte sich Hanna ihren Rucksack von der Rückbank, öffnete die Tür und stieg aus.
Der Weg zu dem Einfamilienreihenhaus war viel zu kurz. Sie stand vor der Haustür und hatte noch immer keine Ahnung, was sie sagen sollte. Was erzählte man jemandem, mit dem man auf Reisen so viel Zeit verbracht hatte? Der die schlimmsten Erfahrungen mit einem teilte und der ein Jahr in dem Wissen und der Trauer gelebt hatte, dass man tot war? Dass sie geklingelt hatte, bemerkte sie erst, als die Haustür aufging und Sofie Winter vor ihr stand. Einen Moment starrten sie sich wortlos an, während Sofie sichtlich die Farbe aus dem Gesicht wich. Dann verschwand der verschreckte Ausdruck aus ihren Augen, verwandelte sich in Verstehen.
»Frau Benner, entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen geschockt, Sie zu sehen. Ich denke immer erst, es wäre Hanna, und vergesse, dass Sie Zwillinge sind. Kommen Sie doch rein.«
Zögernd übertrat Hanna die Schwelle, warf einen hastigen Blick zurück und sah, dass ihr Onkel sie durch das Fenster beobachtete. Sofie Winter führte sie ins Wohnzimmer.
»Darf ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten? Es tut mir leid, wir sind nicht auf Besuch vorbereitet.« Sie schob die Fotos, die auf dem Boden ausgebreitet lagen, wie einen Blätterhaufen zusammen. »Mein Mann arbeitet gerade an seinem Projekt über den Ganges. Seine erste Tour mit Ihrer Schwester. Wir konnten bisher nur auf die Bilder zugreifen, deren Rechte bei der Zeitschrift liegen. Hat mein Mann Sie angerufen?«
Hanna räusperte sich. »Nein.« Sie streckte die Hand aus. »Darf ich?«
»Aber natürlich.« Sofie reichte ihr die Bilder. Hanna nahm sie und setzte sich auf das Sofa.
»Einen Kaffee?«
»Ja, gerne.«
»Mit Milch, richtig?«
»Nein, schwarz.«
Während Sofie in der Küche verschwand, blätterte Hanna die Bilder vom Ganges durch. Jedes einzelne steckte voller Erinnerungen dort das Dorf mit den vielen Schlangen, die Gebetstempel an den verschiedenen Zwischenstationen ihrer Reise, die Waschung der Toten und das Verbrennen – überall Bilder mit intensiven Farben. Sie konnte die Geräusche der betenden Hindus hören und sah den Dreck im Fluss, je weiter sie sich dem Delta genähert hatten.
»Sie vermissen sie sehr, nicht wahr?« Unbemerkt war Sofie Winter mit einem Becher Kaffee und einem Teller Kekse hereingekommen. »Meinem Mann geht es genauso. Die ersten Monate nach ihrem Tod dachte ich, er würde zum Alkoholiker. Er konnte nicht einschlafen, ohne Wein getrunken zu haben, keine einzige Nacht. Sein Arbeitszimmer – völlig verwahrlost. Er ist schon vorher ein Chaot gewesen, aber darin steckte Kreativität, in der Verwahrlosung hingegen nur Hoffnungslosigkeit und Schuldgefühle. Ich wollte ihn einliefern lassen.« Sie reichte ihr den Becher Kaffee, stellte die Kekse auf den Couchtisch. »Zum Glück kam Ihr Onkel vorbei, der Kardinal. Er hat lange mit ihm gesprochen, und danach ging es ihm besser. Und sehen Sie«, sie zeigte auf die Bilder, »jetzt ist er wieder an seinem Projekt dran.«
»Wo ist er?«
»Einkaufen, er müsste ...«
»Sofie, kannst du mir die Tüten abnehmen, dann kann ich eben noch die Getränkekisten reinholen.«
Hannas Hände, die die Bilder hielten, begannen zu zittern. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Als Harald ins Wohnzimmer kam, machte ihr Herz einen Satz. Seine Haare – viel länger als früher – waren so grau geworden. Er
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