Hannas Entscheidung
rieb sich mit den Fingern die Stirn, versuchte nachzudenken, sich zu erinnern. Sie hatte das alles in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verdrängt, fest verschlossen, damit die Erinnerungen ihr nicht mehr weh tun konnten.
»Trotzdem habe ich an all das nicht mehr gedacht, bis ich vor zwei Wochen über etwas gestolpert bin.«
Ein kalter Schauer wanderte Hanna den Rücken hinunter, als sich Harrys Blick fest auf sie richtete. Sofie kam mit einer Karaffe herein, in der sich eine helle Flüssigkeit befand, die sprudelte. Darin schwammen Blätter. Sie setzte die drei Gläser mit Limettenschnitzen darin ab, und füllte sie voll.
»Keine Sorge, das ist ein alkoholfreier Hugo.« Sie blinzelte den beiden zu. Dann setzte sie sich zu Hanna auf die Couch. Obwohl Hanna sich nicht so fühlte, als ob es etwas zum Feiern gäbe, hob sie brav das Glas und prostete dem Ehepaar zu. Vorsichtig nippte sie und stellte überrascht fest, dass das Getränk angenehm erfrischend schmeckte. Holunderblütensirup war mit Sicherheit ein Bestandteil, und bei den grünen Blättern im Getränk handelte es sich definitiv um Minze.
»Heißt das, du bist außer Gefahr, weil Lukas tot ist?«, kam Sofie direkt auf den Punkt und zu einer Frage, die Hanna nicht beantworten wollte.
»Es ist schwer, nicht mehr die sein zu dürfen, die du bist.«
»Ich verstehe, und deshalb hat sich deine Schwester auch so seltsam mit den Fotorechten angestellt.«
»Fotorechte?«
»Na ja, anstatt Harry zu sagen, dass sie keine Fotos von dir rausgeben möchte, kam gleich ein ellenlanges Schreiben von einer bekannten Anwaltskanzlei aus Berlin. Ich meine, sie hatte uns ja auf der Beerdigung gesehen. Sie hätte uns einfach nur anzurufen brauchen.«
»Sofie, bitte.«
»Tut mir leid, Harry, ich glaube, ich bin auch etwas aufgedreht. Das alles hier ist so ...« sie suchte nach Worten, kramte in ihrem Kopf »... seltsam.«
»Marie wusste nicht, dass ich lebe.«
»Oh«, hastig nippte Sofie an ihrem Hugo.
»Ging es um die Bilder vom Ganges?«
»Von unserer Seite, ja, aber wir bekamen eine anwaltliche Verfügung, dass wir alle Bilder von dir, die noch in Harrys Besitz waren, löschen oder aushändigen müssten.«
»Wann war das?«
»Vor fünf oder sechs Monaten.«
»Und?«
Harry mischte sich ein: »Es fand im Beisein eines Anwalts statt. Er prüfte meine Rechner und Speichermedien, und ich musste alle Bilder, die ich von dir hatte und an denen kein Verlag Rechte besaß, löschen.«
»Komisch.«
»Ja, in der Tat, wo wir doch beide wussten, dass alle Bilder von dem Überfall schon lange beim Militär – und ich bin mir sicher, auch beim BKA – lagen.«
»Sie steckt dahinter, oder?« Aufmerksam musterte Harry sie.
»Marie? Nein.« Warum glaubte jeder, ihre Schwester hätte Dreck am Stecken?
»Ich hab sie bei der Beerdigung gesehen. Sie sah dir so ähnlich, dass mir die Luft wegblieb.«
»Wieso denkst du, dass Marie dir die Polizei auf den Hals geschickt hat?«
Er schwieg, nahm einen Schluck aus seinem Glas und stellte es langsam auf den Couchtisch. Sich vorbeugend, legte er die Unterarme auf seine Knie. Wieder betrachtete er sie durchdringend. »Wer sagt mir, dass du wirklich Hanna bist?«
»Weshalb sollte ich dich anlügen?«
»Ich weiß nicht, sag du es mir.«
»Die Narbe auf meiner Stirn?«
Hanna sah, wie seine Sicherheit ins Schwanken kam. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Marie an derselben oder einer ähnlichen Stelle eine Narbe besaß. Schließlich zog sie ihr T-Shirt rechts am Arm hoch. Harry hatte ihr Tattoo oft genug gesehen. »Harry, was hast du gefunden?«
»Du hast was gefunden?« Sofie starrte ihren Mann an.
Hanna sah die Angst in ihren Augen. Was in aller Welt war vorgefallen, dass die beiden so verunsichert waren?
»Ich habe nicht mehr dran gedacht. Ich meine, all das, was passiert ist, hat mich aus der Bahn geworfen. Ich hatte es in eine der Seitentaschen des Koffers gepackt und einfach vergessen.«
»Was hast du vergessen Harry?« Diesmal reagierte Hanna ungeduldig, fühlte, dass sie etwas in ihrer gemeinsamen Vergangenheit berührte, das wichtig sein konnte.
»Weshalb tauchst du auf einmal hier auf?«
»Meine Tarnung ist aufgeflogen und ich habe beschlossen, mich nicht mehr weiter zu verstecken.«
»Sie sind hinter dir her?«
»Oh Gott.« Sofie sah sich hektisch in ihrem Wohnzimmer um, als befürchtete sie, dass jeden Moment bewaffnete Männer erschienen.
»Ja.«
»Aber Lukas ist tot.«
»Lukas Benner ist nur ein
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