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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an, ihre Hände eiskalt, und ein Tropfen Schweiß lief langsam ihre Schläfe herab.
     
    »Ich hab ja schon viele Präsentationen von Marie Benner – ach nein, Ziegler heißt sie ja wieder – gesehen, aber so was? Die letzten Monate sind wohl doch nicht spurlos an ihr vorübergegangen, zumindest habe ich sie noch nie so nervös gesehen.«
    Ben hörte die Zufriedenheit aus der Stimme von Mengler. Zwar hatte er Marie noch nie live vor einem Publikum einen Vortrag halten sehen, doch auch ihm fiel ihre Nervosität auf, sie suchte keinen Blickkontakt mit dem Publikum und ließ ihre übliche charmante Ausstrahlung vermissen. So, wie er Marie sonst erlebt hatte, hätte er eher gedacht, sie würde ihre Zuhörer bezaubern, mit ihnen flirten und sich selbstbewusst zeigen. Das Gegenteil war der Fall, kein Wort zu viel kam über ihre Lippen, ihre Stimme hatte keine Spannung, während sie die Fakten herunterrasselte, gehetzt, als wäre sie auf der Flucht. Auch der verhaltene Applaus verdeutlichte, dass Marie trotz eines technisch und inhaltlich ausgefeilten Vortrags keine Begeisterung hatte rüberbringen können. Während sich Graham bei Marie bedankte und der zweite Redner auf die Bühne trat, rutschte Bens Vater auf Maries Stuhl und beugte sich herüber, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
    »Erzähl, wann hast du dem Mädchen das Herz gebrochen?, fragte er. »Erst nach ihrer Scheidung oder vorher?«
    Ben warf seinem Vater einen kalten, abschätzigen Blick zu. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen, wenn es das ist, was du andeuten willst.« Ständig warf sein Vater ihm vor, dass er mit seinen unverbindlichen Beziehungen die Frauen ausnutzte. Dabei hielt er sich, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Kameraden, ehrlich zurück. Er belog die Frauen nicht, wenn sie sich auf ihn einließen. Sie wussten immer, woran sie bei ihm waren.
    »Trotzdem. Seit sie dich gesehen hat, ist sie nervös. Sie wendet sich die ganze Zeit auffällig von dir ab und versucht, dich zu ignorieren. Ich habe aber gemerkt, wie du sie angesehen hast, und dann sprichst du sie einmal an und zack – ist sie das reinste Nervenbündel. Hätte ich gewusst, was du im Sinn hast ...«, sein Vater schwieg einen Moment. »Du hast mich benutzt«, knurrte er.
    Ben fiel keine Antwort darauf ein, denn es stimmte alles. Aber er hatte Marie nicht angesehen, höchstens einen Moment, als sie ihr Haar auf der Seite hinter das Ohr strich, wo es nicht zurückgesteckt war. Oberflächlich sahen sich Hanna und Marie so ähnlich, dass es seinen Puls einen Moment beschleunigt hatte. Da machte es bei ihm klick. Er starrte auf das Podium, von dem Marie längst verschwunden war. Er starrte seinen Vater an, stand auf und verließ den Saal.
     
    Hanna schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Damentoilette, bevor sie sich übergeben musste. Sie hatte dort oben auf dem Podium Blut und Wasser geschwitzt. Nie wieder in ihrem Leben wollte sie sich etwas so Fruchtbares antun. Sie konnte keinen Moment verstehen, was Marie daran so viel Spaß machte. Oh Gott! Sie klappte den Deckel herunter, setzte sich auf die Toilette, zog die Füße hoch und legte die Stirn auf die Knie.
    Langsam beruhigte sie sich. Das Ganze war eine furchtbare Blamage für Marie. Egal. Irgendwie schaffte Marie es bestimmt, den Vorfall gerade zu rücken. Sie hatten dringendere Probleme, denen sie sich stellen mussten. Als sie den Saal verlassen hatte, war ihr ein kleiner Mann aufgefallen, der sie mit so durchdringendem Blick anstarrte, als hätte sie ihn kennen müssen. Viel zu sehr mit Ben und dem bevorstehenden Vortrag beschäftigt, hatte sie dem keine Bedeutung beigemessen, doch jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das musste Wolff gewesen sein, Konstantin Wolff. Trotz der starken Verpixelung des Bildes, das ihr Onkel ihr gezeigt hatte, trotz Hut und Sonnenbrille hatte sie ihn erkannt. Die Statur, seine Ausstrahlung auf dem Bild – nichts gegenüber seiner echten Präsenz. Was tat er hier? Auf einer Veranstaltung der WHO? Wie kam jemand aus der Rüstungsindustrie zu so einer Einladung?
    »Hanna!«
    Das Herz blieb ihr stehen. Sie hielt den Atem an.
    »Hanna! Wo bist du?«
    Die Schritte blieben direkt vor ihrer Tür stehen. Ihr Blick fiel auf die Stöckelschuhe, die auf dem Boden standen.
    »Komm raus.«
    Sie blieb stumm, hielt wie ein Kind die Hände vors Gesicht, als könnte sie dadurch unsichtbar werden.
    »Hanna«, diesmal sprach er eindringlich, sanfter, »Hanna, ich weiß,

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