Hannas Entscheidung
Die Kinder. – Moswen.
»Hast du je darüber nachgedacht, weshalb uns Gott den freien Willen gegeben hat, selbst zu entscheiden?«
Seine Stimme klang so sanft.
»Es wäre so viel einfacher für ihn, uns auf seinen Weg zu zwingen und jede Überschreitung zu bestrafen. Stattdessen opferte er uns seinen Sohn und brachte uns Vergebung.«
Hanna lehnte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe. »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wird nicht in Finsternis bleiben, sondern das Licht des Lebens haben«, rezitierte sie mit geschlossenen Augen aus dem Johannesevangelium. Sie hörte, wie ihr Onkel zitternd tief Luft holte.
»Du bist ein Licht der Welt.«
Sie wartete, dass der Schmerz über seine Worte in ihrem Inneren abebbte. Sie wollte kein Licht sein. Sie wollte leben. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren über diese Worte aus der Bibel nachgedacht? Gerätselt, ob es bedeutete, dass sie den Lehren von Jesus Christus folgen musste oder seinem Leidensweg. Unter dem Dornenkranztattoo auf ihrem rechten Oberarm hatte sie auf Lateinisch die Worte »Ich bin das Licht der Welt« eintätowieren lassen, damit sie sich immer daran erinnerte, dass sie selbst in den finstersten Augenblicken ihres Lebens nicht allein gewesen war. Sie hatte Seinen Trost, Seine Liebe, Seine Wärme gespürt, hatte gewusst, dass die Entführer zwar ihren Körper benutzen konnten, aber nicht ihre Seele, denn die gehörte Gott. Kein Psychiater hatte ihr die Verletzungen, den Schmutz und die Scham nehmen können. Onkel Richard hatte ihr die Absolution erteilt und mit ihr heilten ihre Verletzungen so weit ab, dass sie die Kraft zum Weiterleben gefunden hatte.
»Zehn HIV-positive Kinder werden von einer Ärztin gepflegt, die selber an diesem Virus erkrankt ist, und doch ist nach ihrem Tod bei keinem der Kinder mehr das Virus festgestellt worden, nur bei der Ärztin.«
Sie drehte sich zu ihm.
Er zuckte die Achseln. »Kannst du mir erklären, wieso?«
Tränen stiegen Hanna in die Augen, quollen heraus und liefen ihre Wange herunter. Sie überbrückte die Distanz zu ihm und kniete sich vor ihm nieder. Seine rechte Hand aufnehmend drückte sie ihm einen Kuss auf den Kardinalsring.
Seine Hand hob sich und zeichnete ihr das Kreuz auf die Stirn. »Gelobt sei Jesus Christus.«
»In Ewigkeit. Amen. Ich möchte in Demut und Reue meine Sünden bekennen. Ich habe geschwiegen, als ich hätte reden sollen. Es liegt nicht in meinem Ermessen zu urteilen oder zu vergeben.« Sie ging in sich, atmete ein, fühlte die Ruhe und Kraft, die aus der Beichte in sie strömte.
»Das, was ich denke, ist, dass Marie, Dr. Frederike Schneider und Dr. Rukia Mutai Medikamente an den Kindern getestet haben, um ein Heilmittel gegen HIV zu finden. Dabei starb die kleine Ifeschi. Gleichzeitig muss ihr Tod ihnen geholfen haben, einen wesentlichen Schritt zum Finden des Heilmittels zu gehen. Jedenfalls habe ich die E-Mail von Dr. Schneider an Marie so interpretiert. Das alles sind keine Beweise, nur Schlussfolgerungen, die ich gezogen habe. Ich wusste noch nicht mal, dass die Kinder kein HIV mehr hatten.«
»Woher wusstest du überhaupt, dass die Kinder in dem Dorf von HIV betroffen waren?«
»Alles war so sauber und ordentlich, das Aussehen von Dr. Mutai, die Art, wie die Kinder miteinander spielten. Der große Ernst in ihren Augen. Ich weiß es nicht. Im Grunde wusste ich es erst, als ich mehr über das Dorf herausfand.«
Er nickte. »Also steht es in der E-Mail, dass sie ein Heilmittel gefunden haben?«
»Nein. Sie haben mit dem Leben von Kindern experimentiert. Marie hat mit dem Leben von Kindern gespielt. Weshalb? Wie konnte sie?« Sie hob den Kopf, sah ihren Onkel an, auf der Suche nach einer Antwort, die er ihr nicht geben konnte.
»Aber sie haben ein Heilmittel gefunden.«
»Ja, offensichtlich. Woher weißt du, dass die Kinder kein HIV mehr hatten?«
»Ich habe meine Quellen. Ist dir klar, was das bedeutet?«
Sie zögerte mit ihrer Antwort, dachte daran, wie wütend Marie geworden war, als sie sie damals mit ihrem Verdacht konfrontierte, dass Medicare an den afrikanischen Kindern neue Medikamente testete und dass Medicare auf viel Gewinn verzichten müsste, wenn sie ein Heilmittel für HIV fanden.
»Hoffnung?«
Er lächelte und nickte. »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese Drei, doch am größten unter ihnen ist die Liebe. Hoffnung, Glaube und Liebe, die drei christlichen Tugenden«, zitierte ihr Onkel die letzten Zeilen aus dem Brief an die
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