Hannes - Falk, R: Hannes
oder?« Sonst hat sie nichts gesagt. Sie hat mir nur die Akte auf den Küchentisch gelegt und ist mit quietschenden Reifen weg.
Nachdem ich mit der Walrika vom Balkon reingekommen bin, hab ich mir ’nen Milchtee gekocht und mir Florians bisheriges Leben reingezogen. Die Akte ist ziemlich dick und ich musste lange lesen, wobei es eigentlich immer und immer wieder das Gleiche ist, was drinsteht. Bis auf eine Ausnahme, und die hat es in sich. Die ist auch der ganze Grund, warum der Junge ist, wie er ist. Und diese Geschichte wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht, Hannes. Der Florian hat nämlich im Alter von vier Jahren mit ansehen müssen, wie der Vater die Mutter getötet hat und anschließend sich selbst. Mit einer Pistole, genau gesagt: seiner Dienstwaffe. Florians Vater war Polizist. Dass der Junge das alles mit ansehen musste, war nicht der Wille oder die Absicht des Vaters. Ganz im Gegenteil. Die Tat geschah zu einem Zeitpunkt, wo der Jungelängst im Kindergarten hätte sein müssen. Warum das nicht der Fall war, geht aus den Unterlagen leider nicht hervor. Jedenfalls hat die Mutter den Jungen zu Hause gelassen, und als der Vater mit der Waffe in der Hand und der Absicht zu tun, was er schließlich tat, die Wohnung betrat, saß der Junge auf dem Fußboden im Wohnzimmer und spielte mit den Legos. Vermutlich ging alles sehr schnell. Der Vater hat die Wohnung betreten und gleich geschossen. Hat sich noch kurz vom Tod der Gattin überzeugt und erschoss sich dann selber, bevor der Junge auch nur einen Piep von sich geben konnte. Das war so um die Mittagszeit.
Bis zum nächsten Morgen ist der Junge bei den toten Eltern gesessen und hat was weiß ich getan. Davon steht leider auch nichts in den Akten. Erst tags darauf ist der Florian ans Telefon gegangen, weil das halt geläutet hat. Es war seine Großmutter, die anrief und nach der Mutter fragte. Der Florian hat gesagt, die Mama sei nicht da und der Papa auch nicht und hat aufgelegt. Daraufhin ist die Oma zu der Wohnung gefahren und hat eben vorgefunden, was vorzufinden war. Das ist eigentlich alles, was wichtig ist.
Die unzähligen weiteren Blätter in den Unterlagen sagen immer das Gleiche. Der Florian hat danach bei seiner Oma gelebt, bis die Gesundheit sie verließ. Er kam dann ins Vogelnest und sie ins Krankenhaus, wo sie schließlich gestorben ist. Sie hatte sich in all den Jahren den Arsch aufgerissen für den Jungen, und der hat kein Wort gesagt. Es gibt x Berichte von x Psychologen, Gutachten über Gutachten mit Fachausdrücken, deren Wiedergabe mir leider nicht mehr möglich ist, und im Grunde steht immer nur da, dass der Junge nix sagt. Das war also scheinbar schon immer so, was mich ein bisschenberuhigt, hatte ich doch lange den Verdacht, er schweigt erst, seit er im Vogelnest ist.
Dienstag, 16.05.
Hab gestern leider abrupt aufhören müssen zu schreiben. Einer der Insassen war auf Wanderschaft, und den hieß es, davon zu überzeugen, dass jetzt Bettruhe ist. Eigentlich war es eine Frau, die Frau Obermeier, die du bisher noch nicht kennst, und es spielt eigentlich auch keine große Rolle. Jedenfalls ist die Frau Obermeier im Morgenmantel des Nächtens durch die Gänge geirrt und hat mich mit ihren schlurfenden Schritten darauf aufmerksam gemacht. Ich hab sie ziemlich schnell gefunden und natürlich mit Engelszungen auf sie eingeredet, dass sie wieder ins Bett gehen soll. Das hat aber nicht funktioniert, überhaupt nicht. Stattdessen ist sie irgendwann im Schneidersitz auf dem Boden gehockt und hat sich totgelacht. Da die Frau Obermeier nun ja leider keine Gazelle ist, sondern eher etwas fleischig, hab ich sie auch mit der bewährten Hebeltechnik nicht von dem verdammten Fußboden hochgekriegt. Mir ist der Schweiß zwischen den Arschbacken runtergelaufen und ihr Lachen wurde ständig schriller und lauter. So ging das eine ganze Weile. Die Frau Obermeier saß da und lachte, und ich hievte und zerrte an ihr rum und hab mir dabei einen Wolf geredet, sie solle doch bitte endlich Vernunft annehmen. Irgendwann hat sie dann vor lauter Lachen auf den Boden gepinkelt und ich hab mir den Arm ausgekugelt. Und das sind Schmerzen, Alter, die ich noch nicht mal beschreiben kann. Ich bin in die Knie gegangenund hab mir den Arm gehalten. Dann ist die Frau Obermeier aufgestanden, hat den Gürtel ihres Morgenmantels gelöst und um mich herumgewickelt. Sie hat ganz fest zugeschnürt und dabei nicht aufgehört zu lachen. Es wurde dann ziemlich laut im Flur, weil ich
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