Hannibal
lagen auf dem Pult. Dr. Lecter stocherte in den Papieren herum. Er ließ die Akte der Carabinieri, die seine Permesso di Soggiorno, seine Arbeitserlaubnis, die Fotos und die dazugehörigen Negative seines neuen Gesichts enthielt, unter der Hemdbrust verschwinden. Und da war auch die Partitur, die er Signora Pazzi ausgeliehen hatte. Er nahm die Partitur in die Hand und tippte sie sacht gegen die Zähne. Seine Nasenflügel bebten leicht, als er sein Gesicht dem Pazzis näherte und tief einatmete. »Laura, ich darf sie doch Laura nennen, muß nachts eine wundervolle Handcreme verwenden, Signor. Zuerst kalt und dann wärmer werdend«, sagte er. »Der Duft von Orangenblüten. Laura, l’omnge. Hmmmm. Ich habe heute noch keinen Bissen zu mir genommen. Leber und Nieren kämen mir zum Abendessen gerade recht - heute abend -, aber der Rest des Fleisches sollte bei der gegenwärtig kühlen Witterung doch mindestens eine Woche abhängen. Ich habe heute noch keinen Wetterbericht gesehen, Sie vielleicht? Ich nehme das für ein >Nein<. Wenn Sie mir erzählen, was ich wissen muß, verehrter Commendatore, bin ich unter Umständen bereit, die Stadt ohne meine Mahlzeit zu verlassen; Signora Pazzi wird dann unversehrt bleiben. Am besten, ich stelle Ihnen meine Fragen, und dann sehen wir weiter. Sie dürfen mir vertrauen, obwohl ich annehme, daß Ihnen Vertrauen einigermaßen schwer fällt, Sie kennen sich doch selbst gut genug. Im Theater wurde mir klar, daß Sie mich entlarvt haben, Commendatore. Haben Sie sich eigentlich vor Angst in die Hose gemacht, als ich mich über die Hand der Signora gebeugt habe? Als die Polizei nicht anrückte, wußte ich, daß Sie mich verraten und verkauft hatten. Lassen Sie mich raten, an Mason Verger? Blinzeln Sie bitte zweimal für ein Ja. Haben Sie besten Dank, das dachte ich mir. Ich habe die Telefonnummer auf seinem allgegenwärtigen Plakat, nur um des Vergnügens willen, einmal aus einem anderen Land angerufen. Warten die Männer draußen auf mich? Hmm hmmm. Und einer von ihnen riecht nach verdorbener Wildschweinwurst? Ich begreife. Haben Sie irgend jemandem aus der Questura etwas über mich erzählt? War das ein Blinzeln? Das habe ich mir gedacht. Ich möchte, daß Sie eine Minute nachdenken und mir dann Ihren Zugangscode für den VICAP-Rechner in Quantico geben.« Dr. Lecter ließ die Klinge seines Messers aufblitzen. »Ich werde Ihnen jetzt das Klebeband entfernen, und dann dürfen Sie ihn mir zuflüstern.« Dr. Lecter hielt das Messer hoch. »Schreien Sie nicht. Glauben Sie, daß Sie sich so weit in der Gewalt haben, daß Sie nicht schreien werden?« Pazzi war heiser vom Äther. »Ich schwöre bei Gott, daß ich den Code nicht kenne. Ich kann überhaupt keinen klaren Gedanken fassen. Wir können zu meinem Wagen gehen, ich habe die Papiere -« Dr. Lecter drehte Pazzi mit dem Gesicht zur Wand und ließ die Bilder des gehängten Pier della Vigna und von Judas mit heraushängenden Gedärmen in schnellem Wechsel über die Leinwand huschen. »Wonach steht Ihnen der Sinn, bevorzugen Sie Ihre Eingeweide drinnen oder draußen?« »Der Code steht in meinem Notizbuch.« Dr. Lecter hielt Pazzi das Notizbuch vor das Gesicht, bis er den Eintrag fand, der zwischen Telefonnummern notiert war. »Und damit können Sie sich von überall aus als Besucher einloggen?« »Ja«, krächzte Pazzi. »Ich bin Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet, Commendatore.« Dr. Lecter drehte die Sackkarre herum und rollte Pazzi zu den großen Fenstern. »Hören Sie! Ich habe Geld, Mann! Sie brauchen doch Geld für Ihre Flucht. Mason Verger wird niemals aufgeben. Er wird niemals aufgeben. Sie können nicht nach Hause zurück, um Geld zu holen. Die beobachten den Palazzo.« Dr. Lecter legte zwei Gerüstbohlen als Rampe auf das niedrige Fensterbrett und rollte Pazzi auf der Sackkarre nach draußen auf den Balkon. Die Brise wehte Pazzi kalt ins schweißnasse Gesicht. Er sprach jetzt schneller. »Sie kommen niemals lebend aus dem Gebäude. Ich habe Geld. Ich habe 160 Millionen Lire in bar. Das sind 100 000 US-Dollar! Lassen Sie mich mit meiner Frau telefonieren. Ich sage ihr, sie soll das Geld besorgen, es in mein Auto legen und den Wagen vor den Palazzo fahren.« Dr. Lecter holte den Strang vom Pult und brachte ihn, das orangene Kabel hinter sich herziehend, nach draußen. Das andere Ende war mit einer Reihe von Knoten sorgfältig an der schweren Poliermaschine befestigt. Pazzi sprach noch immer. »Sie wird Sie über mein Handy anrufen, wenn
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