Hansetochter
einem Beutel am Leib. Zudem hatte sie Livs Kleidung, die Adrian ihr geliehen hatte, sicherheitshalber eingesteckt. Sie könnte vielleicht nützlich sein. Dann band sie ihren Dolch an den Gürtel und den Pfeilköcher samt dem Bogen auf den Rücken. Sie hätte nicht gedacht, dass sie einmal dankbar dafür sein würde, dass Asta sie gezwungen hatte, den Umgang damit zu üben. Bei dem Gedanken an ihre Tante wurde ihre Brust eng. Hoffentlich lebte sie noch!
Sie waren die Ersten, die aus dem Stadttor ritten, und hielten sich abseits der breiten Wege – niemand musste sie sehen. Wenn sie scharf ritten, würden sie den Hof schon in wenigen Stunden erreichen. Doch schon nach kurzer Zeit mussten sie auf einer Lichtung in einem Buchenwäldchen Rast machen, weil Janne so durchdringend jammerte, dass ihr Hintern wund sei. Sie aßen etwas, dann legte die Köchin sich bäuchlings auf eine Wiese, und auch Hem fielen vor Erschöpfung die Augen zu. Henrike wollte zum Aufbruch drängen, aber Adrian schlug vor, einen Augenblick zu pausieren, danach würde es umso schneller vorangehen.
Henrike blieb unruhig stehen, sie fühlte sich auf dieser Lichtung nicht wohl. Sie musste an den Tag denken, an dem Nikolas versucht hatte, ihr Gewalt anzutun. Es war ein ähnlicher Ort gewesen wie dieser hier. Henrike zog ihren Dolch, wog ihn einenAugenblick in der Hand. Ob ihr Vetter etwas mit dem Überfall auf den Gutshof zu tun hatte? Sie zielte auf den Stamm eines Baums, verfehlte ihn aber knapp. Sich immer wieder umsehend, als ob im Gebüsch ein Angreifer lauern könnte, suchte sie den Dolch und warf ihn erneut.
Adrian beobachtete sie gebannt. »Was glaubt Ihr, wer hat das getan? Und von welchen Unholden hat Hem gesprochen?«, wollte Adrian wissen.
Henrike zog den Dolch aus der Rinde – dieses Mal hatte sie getroffen – und ging auf die Lichtung zurück. Was musste, was durfte sie Adrian erzählen? Würde er nicht ohnehin alles mitbekommen, wenn er bei Asta war? Von Nikolas’ Gewalttat konnte sie nicht sprechen, zu sehr schämte sie sich dafür, egal, was Asta ihr darüber eingetrichtert hatte, dass die Frauen nie die Schuld an solchen Übergriffen trugen. Also fasste sie die Ereignisse im letzten Herbst nur in groben Zügen zusammen.
»Ihr glaubt also, dass Euer Vetter damit zu tun hat?«, folgerte Adrian, als sie am Ende war.
Henrike ließ den Dolch wieder mit voller Kraft aus ihrer Hand schnellen. Mit einem scharfen Rascheln verschwand er im Gebüsch.
Adrian kam ihr zuvor und holte ihn heraus. Bedächtig strich er über Griff und Klinge. »Aber warum sollte er das tun? Es muss noch mehr dahinter stecken. Hat Margarete Euch nicht einmal gefragt, ob Nikolas Euch wieder etwas angetan habe?« Er sah sie an, als ahnte er, dass sie etwas verschwieg. »Ihr müsst es mir nicht erzählen, ich respektiere das. Aber vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich wüsste, was wirklich vorgefallen ist, Henrike.«
Sie ließ sich auf die Erde sinken, ließ das frische Grün durch ihre Finger gleiten, sah in den Wald hinein. Das Blätterdach war so früh im Jahr noch durchlässig, Sonnenstrahlen tanzten auf dem Waldboden. Die Knospen der Buschwindröschen waren schon aufgebrochen, aber der Waldmeister würde noch etwas aufsich warten lassen. Die Lebenskraft der Natur stärkte auch ihren Mut.
Stockend begann sie, Adrian davon zu berichten, wie Nikolas sie im Wald belästigt und im Stall angegriffen hatte, wie sie ihm nur mit knapper Not entronnen war und wie Asta ihn zurechtgewiesen hatte. Als sie ihn ansah, bemerkte sie Ekel in Adrians Zügen, unwillkürlich schossen Tränen in ihre Augen.
»Ich hätte es Euch nicht erzählen dürfen! Was sollt Ihr nun von mir denken!«, stieß sie hervor.
»Von Euch?« Adrian kam ruckartig hoch, spielte mit ihrem Messer, ließ urplötzlich den Dolch in die Mitte des Baumstammes schnellen, wo er tief eindrang. Dann kniete er sich neben sie und nahm ihre Hand. »Warum sollte ich schlecht von Euch denken? Nikolas ist es, der meinen Abscheu erregt. Je mehr ich von den Untaten dieses Schurken erfahre, umso überzeugter bin ich, dass man ihm endlich Einhalt gebieten muss.«
Henrike wischte sich die Tränen ab. »Das wäre auch mein größter Wunsch. Es gibt keinen Menschen, den ich mehr hasse als ihn. Aber wir haben keine Beweise gegen Nikolas. Es sei denn, Asta hat etwas herausgefunden. Vielleicht kennt sie die Wahrheit und kann sie uns sagen. Wenn sie denn noch lebt.« Erneut verschwamm ihr Blick, abrupt machte sie
Weitere Kostenlose Bücher