Hansetochter
Männerkleidung von Adrians Gehilfen. Sie war jetzt froh, dass sich nie eine Gelegenheit geboten hatte, sie ihm zurückzugeben, denn jetzt konnte sie sie gut gebrauchen. Während sie sich umzog, ließ sie die letzten Wochen noch einmal vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Sie wunderte sich nicht mehr, dass ihr Onkel und ihre Tante sofort nach Vaters Tod in die Alfstraße gezogen waren: Ihr eigenes Haus war klein, der Schimmel fraß an den Wänden, und die meisten Balken waren morsch. Arbeit, Schmutz und Schelte hatte es gegeben. Beinahe täglich war ihre finanzielle Lage brenzligergeworden. Onkel Hartwig schien von immer mehr Geschäftspartnern gemieden zu werden. Auf dem Markt ließ sie schon keiner mehr anschreiben. Sie wog den Geldbeutel in ihrer Hand. Es war ihr schwer gefallen, einige Münzen beiseitezuschaffen, aber ganz ohne würde es nicht gehen.
Ihre Lage war wirklich dramatisch geworden: Simons Leben stand auf dem Spiel! Und wenn ihr Onkel nicht einschritt, musste sie es eben tun. Sie musste einfach etwas gegen ihre Verwandten in die Hand bekommen. Oft hatte sie darüber nachgegrübelt, wo sie mit ihren Nachforschungen beginnen könnte, um die Umstände aufzuklären, unter denen ihr Vater gestorben war. Wenn sie einen Beweis dafür erbringen konnte, dass Ilsebe eine Mörderin war – was Henrike inzwischen fest glaubte –, könnte sie ihre Tante und ihren Onkel zu Fall bringen und ihr rechtmäßiges Erbe retten. Wie sie es auch drehte und wendete, nur eine Frau konnte ihr helfen: die Dirne Mette, bei der ihr Vater angeblich seinen letzten Abend verbracht hatte.
Inzwischen hatte sie herausgefunden, wo Mette zu finden war. Nun würde Henrike sie aufsuchen, so gefährlich es auch für sie sein mochte. Zu verlieren hatte sie ohnehin nicht mehr viel. Sie war auf sich allein gestellt. Mit hochgebundenen Haaren, festgeschnürter Brust und geschwärztem Gesicht schlich sie sich aus dem Haus.
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Wenig später saß sie, innerlich völlig aufgelöst, äußerlich so ruhig es ging, vor Mettes Kammer im Hurenhaus. Um sie herum Patriziersöhne, von denen sie die meisten kannte, immer in der Angst, entlarvt zu werden. Als es hieß, dass sie nicht zu Mette könne, packte sie kurz eine wilde Verzweiflung. Aber dann trat die Dirne selbst an die Tür und nahm sie mit in ihr Reich. Wohlig räkelte sie sich auf ihrem prächtigen Lager, ließ ihre Brüste ausdem Ausschnitt des annähernd durchsichtigen Kleides blitzen.
Als Henrike zu sprechen begann, änderte sich ihre Haltung jedoch schlagartig. Sie kam näher, stützte sich auf eine sehr männliche Art auf das Bett und lauschte Henrike aufmerksam.
»Ich bin ... Henrike Vresdorp. Ich habe von dir gehört. Ich weiß, dass mein Vater, Konrad Vresdorp, angeblich oft bei dir war – auch am Abend seines Todes. Ich will ... Ich muss herausfinden, was mit ihm geschehen ist.«
Kurz fasste sie zusammen, wie es ihr seit dem Tod des Vaters ergangen war, ließ aber Hartwigs Betrügereien und Ilsebes Untaten aus; sie war nicht sicher, ob sie der Dirne vertrauen konnte.
Mette lächelte sie offen an. »Du bist also Henrike! Du glaubst gar nicht, wie oft dein Vater von dir gesprochen hat. Du weißt sicher, wie stolz er auf dich war? ›Henrike versteht mehr vom Geschäft, als sie es selbst ahnt, sie ist eine richtige Tochter der Hanse‹, hat er oft gesagt. Du bist sehr mutig, wie dein Vater es auch war.«
Henrike starrte auf ihre verkrampften Finger. Sie hatte lange niemanden mehr so liebevoll von ihrem Vater sprechen hören. Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie sehr sie ihn vermisste!
Mette nahm Henrikes Hände in ihre, strich sacht über die Finger, bis sich die Verspannung löste. »Ich habe mir oft gewünscht, dass wir uns einmal kennenlernen. Dass es aber unter diesen Umständen sein muss ...«, Mette ließ den Satz unvollendet, dann lachte sie heiser. »Manchmal kann man es sich nicht aussuchen. Auf die Pläne des Höchsten hat eine Dirne eben keinen Einfluss.«
Henrike kam der Satz bekannt vor, bald fiel es ihr ein: Ihr Vater hatte gesagt, dass auch ein Kaufmann auf die Pläne des Höchsten keinen Einfluss hatte, als es ihm nicht passte, dass sich Kaiser Karl und Adrian Vanderen zur gleichen Zeit ankündigten. Es kam ihr vor, als sei dieser Abend schon ewig her.
»Ja, dein Vater war an seinem letzten Abend hier. Er war so glücklich! Der Kaiser hatte das Wort an ihn gerichtet. Er war nun sicher, Bürgermeister zu werden, und endlich hatte er für
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