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Hansetochter

Hansetochter

Titel: Hansetochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weiß
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Haus besucht. Zumindest bis eines Tages Telses Bruder Nikolas mit seiner Kinderarmbrust auf Henrikes Puppe geschossen und sie ihm daraufhin so heftig gegen das Schienbein getreten hatte, das er noch Tage später humpelte. Doch je älter sie wurden, desto mehr gerieten sie unter die Aufsicht ihrer Mütter. Beten, Sticken, Musizieren und an der Spindel sitzen waren für Henrike eine Qual, während Telse ganz darin aufging. Sie begann, sich wie eine wohlgesetzte Frau zu benehmen, plapperte die Maßregeln ihrer Mutter nach und ermahnte Henrike stets, wenn sie sich nicht angemessen verhielt.
    Jetzt zupfte Henrike nervös an dem Kranz in ihrem Haar. Einem Kaufmann, der betrog, drohte nicht nur die Ächtung durch den Berufsstand, sondern die ganze Härte des Gesetzes. Er konnte sogar mit dem Tode bestraft werden. Wenn an dem Gerücht etwas Wahres war, könnte auch die Ehre ihres Vaters in Mitleidenschaft gezogen werden, so dass er in der Hanse einen äußerst schweren Stand haben würde   – letztlich könnte ihre ganze Familie gefährdet sein.
    »Bitte, du musst mir verraten, woher du das weißt!«, drängte Henrike ihre Base nun doch.
    Aber Telse war noch längst nicht fertig. Sie senkte die Stimme. »Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, ist er auch noch gottlos. Kann die Finger nicht von den Frauen lassen, hat Kinder in jedem Ort, in dem er Handel treibt.«
    Das allerdings hielt Henrike für gelogen. Ein solches Verhalten sprach sich unter Kaufleuten schnell herum. Es wäre auch ihrem Vater zu Ohren gekommen. Noch einmal flehte Henrike Telse an, ihr Genaueres zu berichten   – da begannen alle Glocken der Stadt auf einmal zu läuten, und kirchlicher Gesang setzte ein. Neben ihr brachen die Menschen in ohrenbetäubenden Jubel aus. Die beiden jungen Frauen drängten sich unter dem Protest der einfachen Leute an ihren Platz in der ersten Reihe zurück.
    »Der Kaiser, der Kaiser ist eingetroffen! Es lebe der Kaiser!«, rief auch Telse wenig damenhaft.
    Doch Henrike war nicht mehr nach Feiern zumute. Sie blickte sich um und bemerkte, dass Adrian ihr direkt in die Augen sah, sie sogar anlächelte. Henrike war verwirrt. Was sollte sie tun? Ihm dafür danken, dass er Simon geholfen hatte, oder seinen Blick entrüstet meiden? Sie bemühte sich um ein dankbares Lächeln, richtete aber ihre Aufmerksamkeit gleich wieder auf die Prozession. »Schau genau hin«, hatte Margarete ihr geraten, und das würde Henrike auch tun. Mit Telses Behauptungen musste sie sich später beschäftigen.
    Endlich waren der Kaiser und die Kaiserin in ihr Sichtfeld getreten. Die beiden wurden umringt von Mönchen und Nonnen. Das Licht der Kerzen, die sie in den Händen hielten, und ihr Gesang jagten Henrike eine Gänsehaut über den Arm. Ein Geistlicher reichte dem Kaiser etwas, das dieser küsste, es musste die Reliquie sein. Johan Perceval hielt die Begrüßungsrede, fehlerfrei und ohne zu stocken. Die Stadtschlüssel wurden dem Kaiser gegeben und zurückgereicht. Dann formierte sich die Prozession. Ratsmann Lange ritt voran, an einer Stange die Schlüssel der Stadttore tragend. Auf ihn folgten verschiedene Adelige mit Reichsschwert und Zepter, es waren wohl Herzöge aus dem Gefolge des Kaisers. Schließlich kam der Kaiser unter seinem Baldachin auch an Henrike vorbei. Sein Schimmel wurde geführt von zwei Bürgermeistern. Kaiser Karl war Mitte sechzigund wirkte, von seiner kostbaren Kleidung und der goldenen Krone abgesehen, wenig beeindruckend. Sein Gesicht war von langen Haaren eingerahmt und wurde von einem herabhängenden Schnurrbart und einem auf beiden Seiten geteilten Vollbart geprägt. Die Einwohner Lübecks bejubelten ihn, sanken vor ihm auf die Knie. Ihr Vater hielt angestrengt die Stange des Baldachins fest, schenkte Henrike im Vorbeigehen jedoch ein kleines Lächeln. Ihm folgte ein hoher Geistlicher   – der Erzbischof von Köln, wusste jemand   –, der den goldenen Reichsapfel mit sich führte, und schließlich unter einem weiteren Baldachin die Kaiserin, eine kräftige Frau, deren Schimmel von Ratsherrn Diercksen und einem Amtsbruder gehalten wurde. Diercksen machte eine etwas unglückliche Figur, weil er sich mit seiner anderen Hand auf den Stock stützte, aber er hatte wohl darauf bestanden, diese Aufgabe zu übernehmen. Nach der Königin reihten sich Fürsten und Grafen ihrem Rang entsprechend ein, die weiteren Räte der Stadt, wichtige Bürger und schließlich die hohen Töchter, denen sich auch Henrike und Telse

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