Hansetochter
Hand auf ihren Mund. Der Druck an ihren Armen lockerte sich etwas. Henrike streckte die Finger aus, tastete über ihrem Kopf die Wand ab. War da nicht etwas – irgendetwas, das ihr helfen könnte? Sie spürte sein steifes Glied zwischen ihren Beinen. Henrike bekam kaum mehr Luft, sah helle Lichtflecken aufblitzen. Voller Verzweiflung tastete sie weiter. Da stieß sie auf etwas Hartes über ihrem Kopf, einen hölzernen Griff. ›Oh bitte, lieber Gott, lass es eine Mistforke sein!‹, ging es ihr durch den Kopf. Sie umfasste ihn, doch ihre Finger glitten ab. Sein heißer Atem schlug an ihren Hals. Jetzt – endlich hatte sie es gepackt, konnte es herunterreißen. Was auch immer es war, es fiel auf ihren Angreifer herab, lenkte ihn für einen Augenblick ab. Sie konnte sich halb unter ihm herauswinden, den Stiel fester umfassen – es war die Forke! Nikolas versuchte, sie ihr aus der Hand zu schlagen, doch Henrike stach blitzschnell zu – und streifte seine Wange. Er fluchte, seine Hände fuhren zu der Wunde. Mit wutverzerrtem Gesicht kam er auf die Beine. Schon wollte er sich wieder auf sie stürzen, doch Bruch und Beinlinge hingen hinunter, gaben sein Gemächt frei und schränkten seine Bewegungen ein. Nun hielt Henrike die Mistforke genau vor seine Brust. In diesemMoment war vielstimmiges Kläffen zu hören, die Hunde kamen in den Stall gerannt. Ein Wolfsspitz mit weißgrauem Fell griff Nikolas an, biss in sein Bein, zerrte die Beinlinge weiter hinunter. In der Stalltür tauchte Matertera Asta mit einer Fackel auf, Ilsebe Vresdorp und das Gesinde im Gefolge. Mit einem Wort rief Asta die Hunde zurück. Nikolas versuchte seine Blöße zu bedecken und hielt die andere Hand krampfhaft auf die Wange gepresst. Ilsebe Vresdorp schrie auf, als sie das blutverschmierte Gesicht ihres Sohnes sah. Sie wollte zu ihm stürzen, doch Asta hielt sie auf.
»Was ist hier los?«, fragte sie in einem Tonfall, der keine Ausflüchte zuließ.
Nikolas keuchte. »Ich wollte nach dem Pferd sehen, da hat diese Dirne versucht, mich zu verführen!«
Henrike umklammerte die Forke. Angesichts dieser dreisten Lüge hätte sie am liebsten noch einmal zugestoßen. Asta kam näher. Der Fackelschein fiel auf Henrikes verweintes Gesicht und ihre zerrissene Kleidung. Ihre Stimme war schneidend, als sie sagte: »So sieht keine Frau aus, die einen Mann verführen will. So sieht eine Frau aus, der von einem Mann Gewalt angetan wurde.« Nikolas und Ilsebe wollten widersprechen, doch die Gutsherrin fuhr ihnen über den Mund. »Er übernachtet hier beim Vieh, wo er hingehört. Im Morgengrauen verlasst ihr mein Haus. Ihr seid hier nicht mehr willkommen! Und du«, meinte sie dann an Henrike gewandt, »kommst mit mir.« Henrike ließ die Mistforke fallen und ging mit zitternden Knien hinter Asta her, ohne Ilsebe und Nikolas Vresdorp noch eines Blickes zu würdigen. Alles war besser, als bei ihnen zu bleiben.
In einer Kammer im Haupthaus entzündete Asta ein Licht und wies auf ein Lager. Henrike drehte sich auf die Seite, das Gesicht zur Wand, zog die Beine an. Sie zitterte wie im Fieber. Eine Decke wurde über sie gebreitet. Der Hund mit dem grauweißen Fell, der fast wie ein echter Wolf wirkte, sah Henrikemit schiefgelegtem Kopf an. »Griseus, gibst du auf Henrike acht, während ich ihr einen Becher Met hole?« Der so Angesprochene sprang zu Henrike auf das Lager, rollte sich neben ihr ein und legte seinen Kopf auf ihre Beine.
Henrike nahm es kaum wahr. War das eben tatsächlich passiert? Wollte sich Nikolas wirklich an ihr vergehen? Hatte sie sich nur knapp vor der Notzucht retten können? Wie kam Nikolas dazu, sie anzugreifen? Sie hatte ihn nie ermutigt, sich in seiner Gegenwart nie unschicklich verhalten. Ihr wäre im Traum nicht eingefallen, ihn jemals zu verführen. Er war ein Lügner und ein Schuft! Sie würde sich nie wieder sicher fühlen können, wenn er in ihrer Nähe war.
Asta kehrte zurück, half ihr auf, reichte ihr einen Becher. Henrikes Hände bebten noch so sehr, dass sie die Flüssigkeit verschüttete. Ihre Tante umfasste Henrikes Hände und half ihr, zu trinken. Ein süßer, herber Geschmack nach Kräutern breitete sich in Henrikes Mund aus, und langsam ließ das Zittern nach. Asta legte einen Finger unter Henrikes Kinn und hob ihr Gesicht an. Henrike mied ihren Blick, Scham und Wut brannten in ihr.
»Ich muss dir eine Frage stellen, Henrike, sieh mich an.« Sie blinzelte heftig, sah aber auf. Die Züge ihrer Tante waren
Weitere Kostenlose Bücher