Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
kosten. Wenn sie gestorben ist, werde ich Ihnen den Rest geben. Es sei denn natürlich, dass Sie Lamont finden. Dann gehört das Geld ihm, und er kann tun damit, was er will.«
Sie hielt mir die Versicherungspolice hin. Sie war auf Claudia Marie Ardenne ausgestellt. Die Begünstigten waren Lamont Emmanuel Gadsden und an zweiter Stelle Ella Anastasia Ardenne Gadsden.
Es war ein schrecklicher Moment. Ich hatte das Gefühl, ein leichenfressender Dämon zu sein, der nur darauf wartete, sich an den Überresten ihrer Schwester zu mästen. Ich wäre beinahe aufgestanden und rausgegangen, aber dann sah ich etwas im Gesicht meiner künftigen Klientin und dachte: Darauf wartet diese Miss Ella doch nur. Oder sie hofft, dass ich auf mein Honorar verzichte, weil mir die Sache so peinlich ist.
Den Gefallen wollte ich ihr nicht tun. Ich zog mein Notizbuch heraus und schrieb mir ein paar Einzelheiten auf: den Namen des Pfarrers, der Lamont getauft hatte, und den des Physiklehrers, der dachte, Lamont wäre ein vielversprechender junger Mann und sollte studieren.
»Wie sieht’s denn mit diesen Freunden aus, die Sie nicht mochten?«, fragte ich.
»Ich erinnere mich nicht an die Namen.«
»Na ja, Miss Ella, Sie wissen ja, wie das ist«, sagte ich und lächelte schwach, um sie wissen zu lassen, dass ich ihre Lüge durchschaute. »Manchmal fällt einem ja so etwas irgendwann in der Nacht wieder ein. Wenn es so weit ist, schreiben Sie die Namen auf, und dann rufen Sie mich bitte an. Wann haben Sie selbst ihn zuletzt gesehen? Was hat er da gemacht? Wo wollte er hingehen?«
»Es war beim Abendessen. Er kam nicht mehr oft zum Essen nach Hause, aber an diesem Tag war er da. Aß Bohnensuppe und las die Zeitung, während meine Schwester und ich uns unterhielten. Wir hatten damals immer eine Abendzeitung, und plötzlich warf er sie zu Boden und ging zur Tür hinaus, ohne sich zu verabschieden.«
Miss Ella holte tief Luft. »›Was ist denn das für ein Benehmen?‹, hab ich gesagt. ›Sich den Bauch füllen und dann nicht mal danke sagen fürs Essen?‹ Claudia dachte immer, ich wäre zu streng mit Lamont, aber ich habe nie verstanden, warum man einem Jungen keine Manieren beibringen soll. Er hatte keine Arbeit, und Claudia und ich waren diejenigen, die das Geld nach Hause gebracht haben. Ich habe in der Fabrik Telefone zusammengeschraubt, und Claudia hat in den Häusern von Weißen den Dreck weggeputzt, aber Lamont hat gedacht, wir wären nur dazu da, um ihn zu bedienen!«
Sie hielt inne und atmete schwer. Ihre Empörung war nach vierzig Jahren noch immer sehr lebendig. »Und als ich an diesem Abend gesagt hatte, was ich gesagt habe, warf er mir ein Kusshändchen zu, machte eine albernen Bemerkung über die ›köstliche Mahlzeit‹ und ging aus der Tür. Dabei hatte er bloß so eine dünne Jacke an, wie sie all die Sportskanonen und Kerle damals trugen. Am nächsten Tag kam dann dieser Schneesturm, wissen Sie. Und als er nicht nach Hause gekommen ist, hab ich gedacht, er ist irgendwo anders untergekrochen. In dieser Jacke hatte er ja keine Chance, einen Blizzard zu überleben.«
Ja genau, der große Schneesturm von ’67. Ich war damals zehn gewesen, und es war mir alles wie ein Wintermärchen erschienen. Über sechzig Zentimeter Schnee fielen, und manche Schneeverwehungen waren so hoch wie die Häuser. Für eine kurze Zeit bedeckte der Schnee die schwefelgelben Flecken, mit denen die Hochöfen der Stahlwerke unser Haus und das Auto gefärbt hatten, und alles war strahlend weiß. Für die Erwachsenen war es ein Albtraum. Mein Vater musste praktisch zwei Tage ununterbrochen auf dem Revier bleiben, während meine Mutter und ich uns bemühten, den Bürgersteig frei zu schaufeln und zum Lebensmittelhändler zu kommen. Die Hochöfen haben natürlich weitergearbeitet, und schon nach einem Tag waren die Schneehaufen schmutzig und gelb.
»Sorgen haben wir uns erst später gemacht.« Miss Ellas harsche Stimme brachte mich zurück in ihr Wohnzimmer. »Als wir wieder aus dem Haus gehen konnten. Wir konnten niemanden finden, der ihn gesehen hatte.«
Zu meinem Erstaunen hatte ich unter all den gerahmten Sinnsprüchen und den Fotos von Martin Luther King, Malcolm X und anderen schwarzen Führern keine Familienbilder gesehen, und als ich Miss Ella um ein Foto von ihrem Sohn bat, schien sie das zu verblüffen.
»Wozu brauchen sie das?«
»Wenn ich nach ihm suchen soll, brauche ich doch ein Foto von ihm. Ich muss wissen, wie er aussah vor vierzig
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