Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
und ihre weichen Wangen wurden tiefrot. »Ich hatte Angst, Sie sagen gleich Nein. Es ist so schrecklich lange her. Meine Mutter war damals noch ein Teenager.«
Es schockierte mich, dass ihre Mutter und ich fast gleich alt waren. »Warum hat Miss Ella so lange gewartet?«
»Hat sie ja nicht!« Karen blieb mitten auf dem Korridor stehen, und ihre großen, braunen Augen sahen mich ernsthaft an. »Sie haben Lamonts Freunde befragt, und sie gingen auch zur Polizei, aber die haben sie mit totaler rassistischer Verachtung behandelt. Da wussten sie nicht, was sie noch tun sollten.«
»Das waren also Miss Ella und ihre Schwester, Miss Claudia, oder? Ich hab Miss Ella gesagt, dass ich auch mit ihrer Schwester reden muss, aber sie hat sich geweigert. Hat sie etwas zu verbergen?«
»Ach, Vic, ich verstehe nicht, warum sie es Ihnen nicht gesagt hat, aber Miss Claudia hat kurz vor Ostern einen Schlaganfall gehabt. Sie kann kaum sprechen. Die Einzige, die sie richtig versteht, ist ihre Schwester. Seit dem Schlaganfall ist sie ganz besessen von der Idee, ihren Neffen zu finden. Miss Ella hat es ihr auszureden versucht, weil es so lange her ist und die Aussichten, etwas herauszufinden, minimal sind, aber Miss Claudia gab keine Ruhe, bis ihre Schwester versprach, nach ihm suchen zu lassen. Sie werden doch nach ihm suchen?«
Ich spitzte die Lippen. »Ich werde tun, was ich kann. Aber es gibt nicht viele Hinweise. Und Miss Ella ist auch nicht sehr hilfreich. Sie hat sich geweigert, mir die Namen der Leute zu nennen, die ihren Sohn gekannt haben.«
»Da kann ich vielleicht helfen«, sagte die Seelsorgerin. »Fremden gegenüber ist sie sehr misstrauisch. Aber ich bin jetzt schon vierzehn Monate hier, und sie vertraut mir inzwischen.«
»Vielleicht sollten Sie dann lieber versuchen, diesen Lamont zu finden«, sagte ich giftig.
Ihr Rosenmund öffnete sich voller Entsetzen, aber sie sagte nur leise: »Das würde ich, wenn ich Ihre Fähigkeiten besäße. Wissen Sie, ich habe mich ziemlich für Ihren Freund Elton ins Zeug gelegt. Ich dachte, Sie würden sich vielleicht revanchieren, in dem Sie Miss Ella helfen. Sie ist wirklich in einer schwierigen Situation.«
»Ich weiß nicht, in welcher Situation sie ist«, sagte ich. »Sie sehen wahrscheinlich eine alte Frau in ihr, die von Ungerechtigkeit und harter Arbeit zermürbt ist, aber für mich ist sie nur eine verbitterte und unzugängliche Zeugin, der man nicht trauen kann. Sogar nach vierzig Jahren ist sie noch so wütend auf ihren Sohn, dass sie fast erstickt, wenn sie über ihn redet. Vielleicht hat sie ihn ja damals umgebracht? Vielleicht ist er ja auch gar nicht wirklich verschwunden, sondern sie hat ihn bloß die ganze Zeit über verleugnet, weil sie sich für das Leben schämt, das er führt.«
Karens Kinnlade klappte herunter. »Sie glauben doch nicht wirklich … Miss Ella doch nicht! Sie ist Kirchenälteste in ihrer Gemeinde!«
»Ich bitte Sie!«, sagte ich. »Die Zeitungen sind voll von Geistlichen, die Geld unterschlagen oder Kinder belästigt haben. Ich behaupte ja nicht, dass Miss Ella so etwas getan hat. Aber sie ist zornig, sie verbirgt etwas, und ich werde nicht umsonst für sie arbeiten.«
»Werden Sie überhaupt etwas tun?«
»Wir haben vereinbart, dass ich mit ein paar Vorermittlungen anfange. Und mein Honorar hab ich auch gesenkt. Aber wenn sie die Raten nicht zahlt, höre ich auf.«
Karen lachte, offenbar war sie erleichtert, dass ich ihr etwas abnahm. »Ich glaube, im Umgang mit Geld ist sie sehr genau.«
»Gut, dann denken Sie bitte dran, sie nach Lamonts Freunden zu fragen. Und außerdem wäre es nützlich, wenn ich mit Miss Claudia reden könnte. Wo wohnt die denn überhaupt? Wissen Sie das?«
»Hier, in Lionsgate Manor. Sie ist in der Reha, obwohl ich ehrlich gesagt wenig Hoffnung für sie habe. Sie und Miss Ella haben sich in der kleinen Wohnung das Bett geteilt, bis sie den Schlaganfall hatte.« Karen schüttelte traurig den Kopf. »All die Jahre hindurch haben die beiden geschuftet, und dann konnten sie sich nicht mal zwei Schlafzimmer in Lionsgate Manor leisten. Das ist nicht gerecht.«
Vielleicht war das der Grund für Miss Ellas Feindseligkeit: die krasse Ungerechtigkeit des Lebens. Das Leben ist unfair. Natürlich. Wenn es schneit, dann fahren die Reichen mit Skiern die Berge hinunter, und die Armen kehren die Bürgersteige, pflegte meine Mutter zu sagen. Trotzdem liebte Gabriella das Leben und mich. Aber sie hatte ja auch die Musik. Wenn sie
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