Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
Jahren. Außerdem werde ich das Foto auch scannen und die Kopien mit dem Computer bearbeiten lassen, um zu sehen, wie er heute aussehen könnte.«
Miss Ella ging wieder zur Anrichte und suchte mit unsicheren Händen nach einem Fotoalbum. Sie blätterte langsam darin und nahm schließlich das Bild eines jungen Mannes in einem gelben Talar heraus. Sein Haar war kurz geschoren, wie es üblich war vor den Tagen der Afro-Frisuren. Er starrte ernst in die Kamera, mit harten, freudlosen Augen.
»Das war nach dem Highschool-Abschluss. Obwohl er damals schon längst auf die schiefe Bahn geraten war, habe ich ihn dazu gebracht, bis zum Abschluss zur Schule zu gehen. Der Rest sind alles nur Baby- und Kinderbilder. Ich will das Bild aber wiederhaben, und zwar genau in dem Zustand, in dem es jetzt ist!«
Ich schob das Foto in eine Plastikhülle und legte sie in einem Schnellhefter ab. Ich würde es am Ende der Woche zurückgeben, sagte ich ihr, wenn ich Kopien gemacht und die ersten Nachforschungen angestellt hätte. »Aber bitte sagen Sie Ihrer Schwester, dass es nicht einfach wird. Ich kann keinen Erfolg versprechen. Das tue ich nie. Und in diesem speziellen Fall kann es sein, dass wir in so vielen Sackgassen enden, dass Sie die Sache gar nicht mehr weiterverfolgen wollen.«
»Aber Sie erwarten trotzdem, dass wir Sie bezahlen, nicht wahr? Auch wenn Sie ihn nicht finden, ja?«
Ich lächelte freundlich. »Ja, genau wie Ihr Pfarrer. Der erwartet auch, dass Sie ihn bezahlen, auch wenn er Ihre Seele nicht retten kann.«
Ihre Augen verengten sich. »Und woher weiß ich, dass Sie mich und Claudia nicht betrügen?«
Ich nickte. Sie hatte einen Anspruch darauf, das zu wissen. »Ich gebe Ihnen einen schriftlichen Bericht. Sie oder Pastorin Karen können dann überprüfen, ob ich tatsächlich getan habe, was ich behaupte. Zumindest stichpunktartig. Aber solange Sie mir die Namen von Lamonts Freunden nicht nennen, kann ich ohnehin nur sehr wenig tun.«
Als ich kurz darauf ging, hörte ich hinter mir die Riegel wieder in umgekehrter Reihenfolge ins Schloss schnappen. Ich stand auf dem Flur und wusste, dass mir eine deprimierende Suche bevorstand.
In Vic Warshawskis Abwesenheit
»Hallo, Miss Ella! Heute hat Ihre Schwester eine ganze Stunde in ihrem Sessel gesessen. Morgen wollen wir versuchen, ob sie schon aufstehen kann«, sagte die Krankenpflegerin munter. »Sind Sie gekommen, um ihr beim Abendessen zu helfen? Sie ist ziemlich müde, weil sie so tüchtig mit ihrer Physiotherapeutin gearbeitet hat.«
Miss Ella nickte, ohne zu antworten. Claudia, die Familienschönheit – es war bitter, sie so zu sehen. War das eine Strafe des Himmels, dass Claudia im Bett liegen musste, dass sie kaum sprechen und sich nicht richtig bewegen konnte, dass sie Windeln tragen musste wie ein riesiges, hilfloses Baby? Pastor Hebert hätte das sicher gesagt, aber Pastorin Karen sagte, Gott sei kein zorniger alter Mann, der Strafen verteilte wie ein Gefängnisaufseher.
»Aber es kommt mir so vor, Herr!« Miss Ella merkte nicht, dass sie laut gedacht hatte, bis die Pflegerin fragte: »Was haben Sie gesagt, Miss Ella?«
Es schien neuerdings immer häufiger vorzukommen, dass sie laut vor sich hin sprach, ohne dass sie es merkte. Kein Verbrechen, nicht mal eine Sünde, aber ärgerlich war es doch, eines von vielen Zeichen dafür, dass man alt wurde.
Die Krankenpflegerin brachte ein Tablett mit matschigem Essen. Der Fernseher dröhnte. Als ob erwachsene Frauen ständig dieses Gesabbel brauchten! Die Frau, die das Zimmer mit Claudia teilte, rieb ihre Bettdecke zwischen den Fingern und starrte ins Leere.
Claudia schien zu schlafen, ihr flacher Atem rasselte leise. Sie hatten ihr das Haar nicht gewaschen, stellte Miss Ella fest. Sie sammelte die Beschwerdepunkte für die Stationsschwester. Wie dieses schöne schwarze Haar gewippt und gefedert hatte, als Claudia jung war! Bis in die mittleren Jahre war es elastisch geblieben. Erst als es grau wurde, hatte Claudia es abgeschnitten. Jetzt trug sie eine Afro-Frisur, eine Krone aus weichen, grauen Haaren, während Ella nach wie vor eiserne Disziplin wahrte und ihr Haar jeden Monat mit Chemikalien und heißen Lockeneisen behandeln ließ.
Ella setzte sich auf die linke Seite, wo ihre Schwester noch Gefühl in den Gliedern hatte. Claudias rechte Hand sah weich und jung aus wie die Hand des jungen Mädchens, auf das Ella damals so eifersüchtig gewesen war, nur die linke war genauso knotig und hart wie Ellas eigene
Weitere Kostenlose Bücher