Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
wenn ich Klavier übte: »Ja, ich weiß Victoria, du hast keine Lust dazu, jetzt zu üben, aber du machst es nur schwerer für dich, wenn du dir keine Mühe gibst. Lass dich auf die Musik ein. Sie braucht dich, auch wenn du denkst, dass du sie nicht brauchst.«
Ich fuhr zurück auf den Lake Shore Drive, legte mich scharf in die Kurven und tat so, als ob es den See gar nicht gäbe. Widerwillig wechselte ich auf den Ryan Expressway. Ich hasse den Ryan, nicht nur wegen des Verkehrs, obwohl hier Tag und Nacht alle vierzehn Fahrbahnen mit Trucks und Autos gefüllt sind. Ich hasse ihn vor allem wegen der Art und Weise, wie er gebaut wurde.
Die Trasse ist tief in die Erde gegraben. Beim Fahren sieht man nur hohe Betonwände, in deren Rissen Unkraut und Gras wuchern. Wenn man nach oben schaut, sieht man gelegentlich die Zweige überhängender Bäume, heruntergekommene Wohnblocks oder ein schmutziges Reifenlager. Dass diese hässliche Schneise überhaupt gebaut wurde, war nur dem Filz in der Demokratischen Partei zu verdanken. Deshalb wurde sie auch nach Dan Ryan benannt, dem Vorsitzenden des Cook County Boards, das 1960 die Gelder für die Finanzierung beschafft hatte.
Die Realität – oder was auch immer – wurde noch intensiver und deprimierender, als ich den Expressway an der 71ten Straße verließ. Zu viele Häuser in West Englewood standen schief und betrunken auf den Fundamenten. Zu viele hatten Fensterhöhlen, die mit Pappe oder Brettern vernagelt waren, und die meisten Türen waren so morsch, dass sie beinahe umfielen. Und an vielen Stellen gab es gar keine Häuser, sondern nur leere, unkrautüberwachsene Grundstücke, die mit dem Strandgut der Großstadt gefüllt waren. Die einzigen Lebensmittelläden waren heruntergekommene kleine Klitschen, die ein paar überteuerte, angeschimmelte Nahrungsmittel hinter den Chips und den Schnapsregalen versteckten und darauf warteten, dass die Ärmsten der Armen sie kauften.
Auf der Straße war kaum jemand. Ich kam an einer Frau vorbei, die unter dem einen Arm ein strampelndes Kleinkind und unter dem anderen eine schwere Einkaufstüte die Straße hinunterschleppte. An der Ecke 71te/Ashland Avenue saßen ein paar Männer auf der Bordsteinkante und tranken aus einer Schnapsflasche, die in einer braunen Tüte versteckt war. Der Ghettoblaster hinter ihnen wummerte so laut, dass die Bässe meinen Mustang zum Zittern brachten, während ich darauf wartete, dass die Ampel grün wurde.
Als ich das Schild der Fit for Your Hoof-Schuhmacherwerkstatt entdeckt und auf der gegenüberliegenden Seite einen Parkplatz gefunden hatte, blieb ich erst mal einen Augenblick im Wagen sitzen, um die Depression abklingen zu lassen, die mich erfasst hatte. Ein gebückter Mann mit tiefschwarzer Haut fegte den Bürgersteig vor dem Laden und redete laut mit sich selbst. Als er merkte, dass ich den Laden beobachtete, drohte er mir mit dem Besen und rief etwas Unverständliches, ehe er sich hastig rückwärts bewegte und in der Tür verschwand wie eine Krabbe in ihrem Loch. Dabei wäre er fast mit einer Frau zusammengestoßen, die den Laden mit einem Paar weißer Krankenschwestern-Schuhe in den Händen verließ. Erst im letzten Augenblick machte er einen Bogen um sie.
Vor dem Schaufenster blieb ich kurz stehen und las den Werbespruch, mit dem Rivers seine Einlagen, Hühneraugenpflaster und Gel-Polster anpries:
Help your feet
Feel pretty neat
When they hit
That concrete!
Darüber war eine Wäscheleine gespannt, von der Hundeleinen und Halsbänder herabhingen. Vervollständigt wurde das Angebot durch ein Regal, auf dem bunte Stirnbänder, Schärpen, Handtaschen und sogar Spielzeug lagen. Das bunte Schaufenster trug auf seine eigene Art dazu bei, die Umgebung etwas aufzuhellen.
Als ich die Tür öffnete, geriet ich in ein Dickicht aus Leder. Ein üppiges Angebot von Handtaschen, Aktenkoffern, Hundegeschirren, Gürteln, Ledermützen und sogar Arbeits- und Cowboystiefeln hing von der Decke herunter. Hinter den herabhängenden Leinen hörte ich ein Radio, aus dem der Talk of the Nation hervorquoll. Außerdem heulte eine Schleifmaschine. Als ich die Leinen beiseiteschob, ertönte die Dampfpfeife einer Lokomotive und eine laute Stimme schrie: Welcome to Chicago!
Erschrocken blieb ich stehen. Zwei Männer, die über einem Schachbrett brüteten, hoben die Köpfe und lachten. Die Theke war hinter ihnen. Der Besitzer, der dabei war, die neuen Absätze für ein Paar Schuhe zu schleifen, saß mit dem Rücken zu
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