Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
es ihr wieder besser geht. Sie ist jetzt sehr schwach, und ein Gespräch mit Fremden würde sie überfordern. Außerdem hat ihre Schwester alle juristischen Vollmachten, also kommen wir nicht an Miss Ella vorbei.«
Als wir aufgelegt hatten, begann ich, die Liste der Personen zu googeln, die Lamont Gadsden gekannt hatten. Vier der fünf Männer waren noch am Leben, einer von seinen Freunden war schon mit siebenunddreißig an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ein weiterer war genauso spurlos verschwunden wie Lamont selbst. Der Physiklehrer war vor fünfzehn Jahren in Pension gegangen und wohnte jetzt in Mississippi. Und Pastor Hebert war mit dreiundneunzig offenbar auch nicht mehr so temperamentvoll, wie er zu seinen besten Zeiten gewesen war. »Ach, es ist wirklich ein Jammer«, sagte die Frau, die sich auf die Nachricht hin meldete, die ich auf dem Anrufbeantworter seiner Gemeinde hinterlassen hatte. »Früher hat der Heilige Geist im Körper dieses Mannes gewohnt!«
Ich fragte, ob er gestorben sei.
»Nein, nein, er weilt immer noch unter uns, aber nicht mehr so richtig, falls Sie verstehen. Er hat mich zu Jesus geführt, mich, meine Schwestern und meine zwei Jungs. Wir brauchen die rettende Stimme dieses heiligen Mannes so dringend.«
»Ja, Ma’am«, sagte ich mit schwacher Stimme.
Ich rief den Physiklehrer an, der Lamont aber seit der Highschool nicht mehr gesehen hatte. »Er war ein aufgeweckter Bursche«, sagte er. »Ein guter Schüler. Ich wollte, dass er auf die Universität ging, aber er war ein so zorniger junger Mann, dass man über gar nichts mit ihm reden konnte. Jedenfalls nichts, was mit der Welt der Weißen zu tun hatte. Ich habe Howard oder Grambling vorgeschlagen, aber er wollte auch davon nichts hören. Ich wusste nicht mal, dass er verschwunden ist.«
Der Lehrer versprach, mich anzurufen, wenn er von Lamont etwas hörte, aber das war etwa genauso wahrscheinlich wie ein Auftritt der Cubs bei den World Series. Damit war nur noch ein Mann übrig. Er hieß Curtis Rivers und lebte heute noch in West Englewood, nur ein paar Blocks entfernt von der Straße, wo er und Lamont aufgewachsen waren. Genau wie die anderen Personen auf Miss Ellas Liste hatte er offenbar nur sehr wenig getan, was Spuren im Netz hinterließ. Er ging nicht zur Wahl, er war nicht im Gefängnis gewesen und hatte auch nicht für ein öffentliches Amt kandidiert. Ob er je geheiratet hatte, ließ sich nicht feststellen. Aber ihm gehörte eine Schuhmacherwerkstatt in der 70ten Straße, unmittelbar westlich von der Ashland Avenue. Sie hieß Fit for Your Hoof.
In jedem Fall würde ich erst am Abend Zeit haben, ihn zu besuchen. Vorher musste ich noch etwas für Darraugh Graham, meinen wichtigsten Kunden, erledigen: Es ging um die Zeugnisse einer Frau, die Darraugh zur Chefin seiner Aerospace-Abteilung machen wollte. Ich musste also zur Fakultät für Ingenieurwissenschaften der Northwestern University.
Zu meinem Bedauern musste ich feststellen, dass die Bewerberin nur deshalb so einen guten Eindruck machte, weil ihre Zeugnisse falsch waren. War es den Bewerbern heutzutage denn völlig egal, was sie für Lügengeschichten erzählten? Wahrscheinlich haben die Politiker und das Fernsehen die Grenzen zwischen Wahrheit, Entertainment und Betrug so aufgeweicht, dass die Leute denken, es kommt gar nicht mehr darauf an, ob die Geschichten, die sie erzählen, wahr sind oder gut erfunden.
Allerdings sah der Campus der Northwestern an diesem Sommertag auch nicht ganz real aus: Die neogotischen Gebäude wurden grüngolden vom Laubwerk umhüllt, dahinter flimmerte die unendliche Weite des Michigansees. Ich ging zum Wasser hinunter, wo einige Studenten am Ufer saßen, und verlor mich in Tagträumen.
Mein Handy meldete sich: Caroline, Darraughs persönliche Assistentin. Ich seufzte und kehrte zurück in die Realität.
Ich sagte ihr, dass Darraugh mit dieser Kandidatin Pech gehabt hätte. Ich würde ihm später übers Festnetz noch einen detaillierten Bericht geben. Der Anruf verdarb mir die Stimmung. Ich wusste, dass es jetzt Zeit war, sich um Miss Ella und ihren Sohn zu kümmern. Ich hatte zwar überhaupt keine Lust, mich mit dieser unangenehmen Frau und ihren bitteren, vierzig Jahre alten Problemen auseinanderzusetzen, aber ich hatte mich nun einmal bereit erklärt, für sie zu arbeiten, und das bedeutete, dass ich mein Bestes geben musste, was immer ich von ihr hielt.
Ich erinnerte mich an die Worte meiner Mutter, die hinter mir stand,
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