Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
Eisenbahnmagnaten George Pullman ist. Alle seine Angestellten sollten hier wohnen. Es gab Häuser für die Manager, Mietwohnungen für die Arbeiter und Läden, in denen sie einkaufen mussten, was schließlich zu einem blutigen Streik führte, weil die Arbeiter sich gegen die überhöhten Preise und Mieten zu wehren versuchten. Am Ende musste Pullman seine Stadt aufgeben, aber die meisten Häuser stehen noch heute. Die Ziegelsteine sind aus dem besonders zähen Lehm gebrannt, den man am Lake Calumet findet, und werden so hoch geschätzt, dass Diebe schon ganze Garagen abgebaut haben sollen, um die Ziegel anderswo in der Stadt zu verkaufen.
Zu meiner Rechten sah ich das Hotel Florence. Wegen seiner Türmchen und Giebel hatte ich es immer für ein Märchenschloss gehalten, als ich noch klein war. Es ist jetzt schon seit Jahrzehnten geschlossen, aber meine Eltern pflegten dort essen zu gehen, wenn es eine besondere Gelegenheit gab. Ich hielt einen Augenblick an, betrachtete die kahlen Fenster und dachte an das Familienessen an meinem zehnten Geburtstag, kurz bevor in der ganzen Stadt schwere Unruhen ausbrachen. Meine Mutter versuchte mit ihrem Charme, eine vergnügte Partystimmung zu schaffen, scheiterte aber an den Tiraden meiner Tante Marie, die mit ihren rassistischen Ausfällen jede Unterhaltung verdarb.
Ich hatte Tante Marie nicht dabeihaben wollen, aber meine Mutter sagte, ich könnte Boom-Boom nicht ohne seine Eltern einladen. Später, als wir wieder in unserem kleinen Wohnzimmer in South Chicago waren, schrie ich meine Mutter an. Es geschähe ihr ganz recht, dass Tante Marie das Fest ruiniert hätte. Da sprang mein Vater, der vor dem Fernseher saß, um ein Spiel der Cubs anzusehen, plötzlich auf, packte mich am Arm und schob mich hinaus in den Garten.
»Victoria, jeden Tag muss ich mich auf den Straßen mit Leuten herumschlagen, die glauben, ihre Wut wäre wichtiger als die Gefühle oder Bedürfnisse anderer Menschen. Ich will diese Wut nicht in deinem Gesicht sehen, und ich will sie nicht in deiner Stimme hören, schon gar nicht, wenn du mit deiner Mutter sprichst.«
Mein Vater hatte mich vorher nie gescholten, und dass er es ausgerechnet an meinem Geburtstag tat … Ich brach in Tränen aus und machte ihm eine Szene, aber er stand bloß daneben und kreuzte die Arme vor seiner Brust. Er war nicht bereit, mein Verhalten zu akzeptieren. Ich musste mich beruhigen und bei meiner Mutter entschuldigen.
Die Erinnerung an diese Demütigung und die Ungerechtigkeit meines Vaters brannte heute noch in meinem Gedächtnis. Die Wucht dieser Empfindungen war mir peinlich. Mit blinden Augen starrte ich auf das Hotel, und zum ersten Mal begann ich zu ahnen, dass Vaters Zorn nicht nur mit mir zu tun hatte, sondern auch von seinen Ängsten vor dem gespeist wurde, was uns bevorstand: gläubige Katholiken, die alles ignorierten, was ihnen ihr Kardinal gesagt hatte, die sich um Nächstenliebe und Frieden nicht kümmerten, sondern mit allen möglichen Wurfgeschossen auf die Straße gingen und diese auch einsetzten. Pater Gribac, der Priester von Tante Marie, stachelte seine Gemeinde praktisch zum Bürgerkrieg auf – und mein Vater machte sich Sorgen um unsere Sicherheit. Nach meinem zehnten Geburtstag war mein Vater fast zwei Monate lang nur nachts zu Hause.
Hinter mir hupte jemand. Ich fuhr weiter und suchte mir einen Weg durch das Straßengewirr zur Langley Avenue, wo Rose Hebert wohnte. Jede Menge Pendler liefen mir über den Weg, meist untrennbar mit ihren Handys verwachsen. Irgendjemand war auch schon dabei, seinen winzigen Rasen zu mähen, während eine Frau auf der anderen Seite die Fenster des Wohnzimmers putzte. Am Ende der 114ten Straße spielten ein paar Mädchen Gummitwist. Die Jungen spielten auf einem dahinter liegenden unbebauten Grundstück Baseball. Die Mädchen ließen ihre Augen zu mir herübergleiten – fremde weiße Frau in ihrer Gegend – ohne den Gummitwist-Rhythmus zu ändern.
Die Heberts wohnten in einem der Original-Pullman-Häuser: die breite Seite zur Straße, rote Ziegel mit schwarzen Bögen über den Fenstern, die aussahen, als ob die Häuser die Brauen hochzögen. Ich hatte kaum die Klingel berührt, als Rose Hebert auch schon die Tür öffnete. Sie war ungefähr zehn Jahre älter als ich, eine müde aussehende Frau. Ihre kurz geschnittenen Haare waren schon grau, und ihre muskulösen Schultern hingen herunter. Sie trug ein dünnes, lavendelfarbenes Sommerkleid.
»Ich habe Vater gesagt, dass
Weitere Kostenlose Bücher