Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
»Hatten die Gangs nicht einen Waffenstillstand geschlossen?«
Sie musterte mich immer noch misstrauisch, nickte dann aber. »Johnny Merton von den Anacondas, Fred Hampton von den Black Panthern und noch ein paar andere haben sich mit Dr. King und Al Raby getroffen, um die künftige Strategie zu besprechen. Daddy war der Ansicht, die Kirche gehört nicht auf die Straße. Es gefiel ihm nicht, dass Lamont und ein paar von seinen Freunden dort hingingen.«
»Curtis Rivers?« Ich dachte daran, wie feindselig er gewesen war, und sagte den Namen fast unwillig.
»Ja, Curtis war auch da. Und noch ein paar Jungs aus der Nachbarschaft. Und Lamont. Sie haben alle zur Saving-Word-Gemeinde gehört, und mein Vater hat sie von der Kanzel herunter beschimpft, weil sie seine Autorität nicht mehr akzeptierten.«
»Aber Lamont ist doch erst sechs Monate später verschwunden«, sagte ich. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass das damit zu tun hatte.« Irgendwas in ihrem Gesicht veranlasste mich nachzufragen: »Wann haben Sie selbst Lamont denn zuletzt gesehen?«
Wieder sah sie in Richtung des Wohnzimmers. Jetzt hörte man voller Inbrunst einen Chor singen. »Daddy hat es verboten. Er sagte, ich würde mein Seelenheil in Gefahr bringen, wenn ich mit Lamont ausginge.«
»Aber Sie haben sich trotzdem mit ihm getroffen.«
Ihr Mund verzog sich zu einem qualvollen Lächeln. »Ich habe mich nicht getraut. Aber Lamont hat auf mich gewartet, als ich aus dem College kam. Ich war am Kennedy-King-College – damals hieß es noch Woodrow-Wilson-College – und habe dort Krankenpflege studiert. Er hat mir von den Panthern erzählt und von Black Pride. Und ich habe den Fehler gemacht, mit meinem Vater darüber zu reden. Ich dachte, ich könnte es ihm erklären.«
Sie blickte auf ihre Hände herunter. »Vielleicht wäre mein Leben ganz anders gewesen … Ich habe meine Ausbildung abgeschlossen, aber ich kriegte immer nur Aushilfsjobs. Es hat Jahre gedauert, bis ich als registrierte Krankenschwester fest angestellt wurde. Ich habe oft an Lamont gedacht, wenn ich Bettpfannen ausgeleert und die ganze schwere Arbeit gemacht habe, während die weißen Krankenschwestern, die auch nicht besser ausgebildet waren und keine besseren Zeugnisse hatten als ich, befördert wurden und mich herumkommandierten. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht Lamont hätte folgen sollen. Aber –«
Eine laute Klingel übertönte den Fernsehchor.
»Das ist Daddy. Er braucht mich. Ich muss zu ihm.«
»Arbeiten Sie immer noch als Krankenschwester?«
»Ja, natürlich. Ich war in der Onkologie, aber das musste ich aufgeben, als Daddy so krank wurde. Jetzt bin ich in der Notaufnahme, aber ich mache immer nur Nachtschichten. Bevor ich zur Arbeit gehe, versorge ich ihn für die Nacht, und morgens helfe ich ihm beim Aufstehen, ehe ich schlafen gehe.«
»Und wenn Sie auf Lamont gehört hätten – was wäre dann anders gewesen? Wäre er bei Ihnen geblieben?«
Obwohl es inzwischen recht dunkel im Flur war, sah ich, wie sie errötete. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Wieder ertönte die Klingel, diesmal länger. Rose schob mich zur Tür hinaus. Hastig zog ich eine Visitenkarte heraus und gab sie ihr.
»Rose Hebert, Sie sind eine erwachsene Frau. Dass Sie vor vierzig Jahren nicht mit Lamont geredet haben, heißt nicht, dass Sie jetzt nicht mit mir reden können.«
Ihre Lippen bewegten sich. Sie warf mir einen verwirrten Blick zu und schaute dann wieder in Richtung des Wohnzimmers. Die Gewohnheit siegte. Mit hängenden Schultern wandte Rose sich ab und ging den Flur hinunter zu ihrem Vater.
8
Ein später Anruf
Als ich an diesem Abend Lotty besuchte, berichtete ich ausführlich über meinen frustrierenden Tag. »Es klingt so, als habe er Parkinson«, sagte sie, als ich von Pastor Hebert erzählte. »Der starre Blick, die Schwierigkeiten beim Sprechen, das findet man häufig im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. Er muss über neunzig sein, nicht wahr? Über diese Krankheit wissen wir immer noch nicht genug, um wenigstens die Symptome beherrschen zu können, besonders bei so alten Patienten nicht.«
»Ich glaube, er hat noch ganz andere Probleme«, sagte ich. »Sonst hätte seine Tochter nicht solche Angst vor ihm. Sie ist ungefähr sechzig, er ist vollkommen von ihr abhängig, aber er kommandiert sie herum wie einen Roboter.«
»Ja, so eine Gehirnwäsche hinterlässt auch Symptome, die schwer zu beherrschen sind«, sagte Lotty mit müdem Lächeln. »Heute
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