Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
diesem Augenblick meldete sich ohnehin Petras Handy. Sie warf einen Blick auf das Display. »Oh, das ist mein Büro«, sagte sie, und schon wurden wir erneut zu Ohrenzeugen eines ihrer Telefonate: »Ach ja? Wirklich? … Nein, ich bin bei meiner Cousine Vic … Wahrscheinlich in einer halben Stunde?« Sie legte auf und wandte sich entschuldigend an Mr Contreras. »Das war Tania, meine Chefin bei der Kampagne. Nie brauchen sie mich für irgendwas, und eigentlich hatte sie mir heute sogar ausdrücklich freigegeben. Aber jetzt soll ich plötzlich ganz dringend zu einer Besprechung kommen. Kannst du Onkel Sal vielleicht das Video auf YouTube zeigen? Ich muss los.«
Sie klapperte mit ihren hochhackigen Stiefeln die Treppe wieder hinunter, was Ruthie endgültig zur Raserei brachte. »Was bildet die sich eigentlich ein?«
»Das ist meine Cousine«, sagte ich. »Also geben Sie endlich Ruhe!« Ich führte die ganze Familie in meine Wohnung und baute meinen Laptop vor ihnen auf. Die Enkel hatten keine Probleme damit, das gestrige Ereignis auf YouTube zu finden, und wir bewunderten alle gemeinsam noch einmal den Auftritt von Mr Contreras.
Mein Handy piepste. Es war eine Nachricht aus dem Gericht. Die Kopie der Harmony-Newsome-Prozessprotokolle war fertig. Ich konnte sie jederzeit abholen.
Ich nahm die Hochbahn, um in die Stadt zu fahren. Die Protokolle zu finden, war dann doch nicht so schwer gewesen. Sie waren alle im County Building auf Mikrofilm archiviert. Sehr viel schwieriger war es gewesen, das Material in eine lesbare Form zu bringen. Die Protokollführerinnen von damals waren natürlich längst nicht mehr da, und jemanden zu finden, der ihre zum Teil stenografischen Notizen noch lesen konnte, war nicht ganz billig gewesen. Am Ende musste ich für die Abschrift fast zweitausend Dollar bezahlen. Mit saurem Gesicht reichte ich meine Kreditkarte über den Tresen. Miss Ella würde mir gerade mal tausend Dollar für meine Ermittlungen zahlen. Jetzt war ich schon tief im Minus. Konnte ich mir diesen Fall überhaupt leisten?
Ich fuhr ins Büro und ärgerte mich so über das ausgegebene Geld, dass ich keinen Blick in das Protokoll warf. Marilyn Klimpton, meine neue Assistentin, war dabei, Briefe und E-Mails zu tippen, die ich gestern diktiert hatte. Sie gab mir eine Liste von einem halben Dutzend Leuten, die ich zurückrufen musste.
Während ich darauf wartete, dass Darraugh Graham ans Telefon ging, fing ich an, in den Prozessprotokollen zu blättern. Für einen Mordprozess waren sie nicht allzu lang, nur neunhundert Seiten. Auf vielen Seiten gab es nur Ja-und-Nein-Antworten. Die Verteidigung hatte nicht viel zu dem Prozess beigetragen. Genau in dem Augenblick, als Darraughs persönliche Assistentin sich meldete, um sich dafür zu entschuldigen, dass ich so lange warten musste, sprang mir plötzlich mein eigener Name aus den Protokollen entgegen.
Name des Beamten, der den Tatverdächtigen festnahm: TONY WARSHAWSKI . Sie hatten meinen Vater geschickt, um Steve Sawyer zu holen? Das konnte nicht sein! Was für ein unglaublicher Zufall. Mein eigener Vater kehrte zurück in mein Leben, nach all diesen Jahren. Plötzlich fiel mir Johnny Mertons Bemerkung wieder ein: Es sei schon ein Witz, dass ausgerechnet ich nicht wusste, wo Sawyer jetzt war.
»Vic? Hallo, sind Sie noch dran?«
»Caroline«, sagte ich schwach. »Sagen Sie Darraugh bitte, dass ich später noch einmal anrufe.«
Ich legte auf, ohne auf Carolines Antwort zu warten. Dann setzte ich mich mit dem Protokoll auf die Couch. Alles drehte sich in meinem Kopf wie ein Kreisel, und ich war so verwirrt, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was los war. Mir war richtig schwindlig.
»Reiß dich zusammen, Warshawski!«, sagte ich so laut, dass meine neue Assistentin erschrak. Ich ging in die kleine Küche und machte mir einen Kaffee. Dann setzte ich mich im Schneidersitz auf die Couch und begann das Protokoll von vorn bis hinten zu lesen.
Der Prozess hatte nur anderthalb Tage gedauert. Harmony Newsome war am 6. August 1966 im Marquette Park gestorben. An diesem Tag hatte Martin Luther King einen Bürgerrechtsmarsch angeführt, der von achtstündigen Krawallen der örtlichen Bevölkerung begleitet wurde.
Am Anfang hatten die Polizisten und Feuerwehrleute gedacht, dass Newsome nur ohnmächtig geworden sei. Erst als es den Sanitätern nicht gelungen war, sie zu reanimieren, wurde klar, dass sie tot war. Wegen des Durcheinanders im Park und der Unmengen von Trümmern und
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