Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
verfasst hatten, besaß aber die
Geistesgegenwart, sie bereits in Gedanken umzuformulieren und damit auf die
veränderte Situation zu reagieren. Das merkte ich daran, dass er noch einen
Moment auf das Blatt starrte, bevor er anfing zu reden.
»Meine
Mandantin, Harper Connelly, wurde von den heutigen
Ereignissen überrascht und schwer mitgenommen. Im Moment sitzt sie mit Tabithas
Eltern zusammen, die gekommen sind, um Harper von
ganzem Herzen für den Fund jener Leiche zu danken, die mit großer
Wahrscheinlichkeit ihre vermisste Tochter ist.«
Ha! 1:0 für
Art, Blythe!
»Miss Connelly ist tieftraurig über den tragischen Ausgang ihrer
Suche nach Tabitha Morgenstern. Obwohl sie seit dem Umzug der Familie nach
Memphis keinen Kontakt mehr zu den Morgensterns hatte, ist Miss Connelly froh, das seit langem vermisste Kind der
Morgensterns unter diesen Umständen doch noch gefunden zu haben. Vielleicht hat
die fürchterliche Ungewissheit, mit der sie schon viel zu lange leben mussten,
dank meiner Mandantin jetzt endlich ein Ende.«
»Wann können
wir mit Harper Connelly sprechen?«, fragte ein
Journalist mit einer sehr durchdringenden Stimme.
Art sah ihn überrascht
an, mit einem Blick, der sowohl Tadel als auch Resignation ausdrückte. »Miss Connelly spricht nicht mit Journalisten«, sagte er, und es
klang wie eine allgemein bekannte Tatsache. »Miss Connelly lebt
sehr zurückgezogen.«
»Stimmt es,
dass ...«, ertönte eine bekannte Stimme, und die Kamera machte einen Schwenk,
um die wie aus dem Ei gepellte Shellie Quail zu
erfassen.
»Um Himmels
willen«, sagte ich. »Die Frau ist wirklich überall.«
Tolliver
lächelte. Er amüsierte sich über die Hartnäckigkeit der Journalistin, ja
bewunderte sie vielleicht sogar dafür.
»... Miss Connelly ein Honorar verlangt, wenn sie Leichen sucht?«
»Miss Connelly ist eine berufstätige Frau mit einer besonderen
Gabe«, sagte Art. »Sie steht nicht gern im Mittelpunkt der Öffentlichkeit, das
hat sie nie interessiert.«
Stimmt,
dachte ich. Eine ausweichende, aber doch zutreffende Antwort.
»Stimmt es,
dass Ihre Mandantin die Belohnung einfordern wird, die auf den Fund von
Tabithas Leiche ausgesetzt war?«, fragte Shellie Quail, und
Tollivers Lächeln erstarb augenblicklich.
»Darüber
haben wir noch nicht gesprochen«, sagte Art. »Mehr habe ich im Moment nicht zu
sagen. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Danach betrat er erneut das
Cleveland. Die Anwältin der Morgensterns war nirgendwo zu sehen - Blythe Benson hatte sich anscheinend schon verdrückt.
Hoffentlich
hatte sie nicht vor, in unsere Suite hochzukommen.
Das
Fernsehen setzte sein normales Programm fort, und kurz darauf war Art wieder
leibhaftig bei uns im Zimmer.
»Das ist gut
gelaufen«, sagte Joel ohne jede Spur von Ironie. Tolliver und ich konnten uns
nur mit Mühe beherrschen. »Und natürlich bekommen Sie die Belohnung.« Joel
stand auf und sah auf die Uhr. »Diane, wir müssen nach Hause. Wir haben noch
einige Anrufe zu erledigen. Wie lange die wohl brauchen, bis feststeht, dass es
sich wirklich um ... Tabithas sterbliche Überreste handelt? Und wann wir den
Leichnam wohl haben können?«
Felicia
griff nach ihrer Handtasche und der von Diane, um der Hochschwangeren zurück
zum Wagen zu helfen.
Diane erhob
sich mühsam. Sie strich sich geistesabwesend mit der Hand über ihren dicken
Bauch, als wollte sie das Wesen darin beruhigen. Ich musste daran denken, wie
meine Mutter mit Mariella und Gracie schwanger gewesen
war. Und irgendwie fiel mir auch der Film ›Rosemarys Baby‹
wieder ein. Tolliver und ich hatten den Film erst vor einer Woche auf einem
Kanal gesehen, der ausschließlich alte Spielfilme zeigte.
»Danke,
Felicia«, sagte Diane.
»Lassen Sie
uns wissen, wie es Victor geht«, bat Tolliver aus heiterem Himmel.
»Wie bitte?«
Felicia drehte sich um und nagelte Tolliver mit ihrem Blick gegen die Wand.
»Aber natürlich.« Ihre Stimme klang bissig, ohne dass ich verstand, warum. Ich
sah zwischen ihr und Tolliver hin und her, bekam aber keine Erklärung.
»Für Victor
war das hier schlimmer als für alle anderen«, sagte Joel. »Vor allem wegen der
Schule. Kinder können so was von grausam sein.«
»Wie alt ist
Victor jetzt? Sechzehn?«, fragte ich munter, um die Situation wieder etwas
aufzuheitern. Keine Ahnung, warum. Ich hätte lieber schweigen sollen, bis die
Bagage weg war.
»Er ist
gerade siebzehn geworden«, sagte Diane. Plötzlich verlor ihr Gesicht seine
madonnenhafte
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