Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
schon lächeln. Wie gesagt, normalerweise fühle ich mich wohl auf
Friedhöfen, aber nicht auf diesem hier, nicht heute Nacht. Ich taumelte erneut.
Auf Friedhöfen gibt es viele Stolperfallen, vor allem auf älteren. Die neueren
haben fast alle flache Grabsteine. Aber bei den älteren liegen die Umgestürzten
irgendwo im Gras. Wegen des vielen Unkrauts ist das besonders tückisch.
Auf noch
abgeschiedeneren Friedhöfen lassen die Lebenden häufig Müll auf den Toten
zurück - kaputte Schnapsflaschen und zerdrückte Bierdosen, Kondome,
Einwickelpapier, alles Mögliche. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich dort
Männer- oder Frauenunterhosen gefunden habe. Einmal entdeckte ich sogar einen
Hut, der übermütig auf einem Grabstein thronte.
Der
St.-Margaret-Friedhof war von dieser Art Müll verschont geblieben. Der Rasen
war gegen Ende des Sommers gemäht und getrimmt worden, also war das Gras
ziemlich niedrig. Unsere Taschenlampenkegel hüpften durch die Dunkelheit wie
verspielte Glühwürmchen. Manchmal kreuzten sie sich und flogen wieder
auseinander.
Es ging kein
Lüftchen, aber es war sehr kalt, eine Kälte, die durch meine Handschuhe drang
und mich zittern ließ. Ich trug eine Mütze und einen Schal, aber meine Nase war
eiskalt. Tolliver, der links von mir ging und etwas Vorsprung hatte, ließ
seinen Taschenlampenkegel tanzen, als er sich die Hände rieb.
Irgendetwas
an dieser Nacht sorgte dafür, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. Ich
versuchte, den Straßenlärm durch die Bäume zu hören, aber es herrschte Totenstille.
Plötzlich war ich beunruhigt. Zumindest die Autoscheinwerfer müsste man doch
durch die Bäume sehen können, oder nicht? Ich verlangsamte meine Schritte und
verlor plötzlich jede Orientierung. Die Taschenlampen schienen mir schwächer zu
leuchten. Ich war nicht mehr weit von dem Grab entfernt, fand aber die richtige
Stelle nicht. Das Summen der Toten um mich herum war ungewöhnlich laut und
heftig für derartig alte Leichen. Ich wollte nach meinem Bruder rufen, brachte
jedoch kein Wort heraus. Plötzlich packte Tolliver mit beiden Händen meinen
linken Unterarm und zwang mich, stehen zu blei ben. »Schau
auf deine Füße«, sagte er mit einer höchst merkwürdigen Stimme. Ich richtete
die Taschenlampe direkt nach unten.
Ein Schritt
mehr, und ich wäre in das offene Grab gefallen.
»Oh mein
Gott, das war aber knapp. Danke. Hörst du irgendwas?«, flüsterte ich. Eine Hand
drückte die meine und ließ sie wieder los. Irgendwie fühlte sich diese knochige
Hand komisch an.
Dann erst
merkte ich, dass mich Tollivers Taschenlampe von der anderen Seite des Grabs anstrahlte, und Tolliver war es auch, der sie in der
Hand hielt.
Mein Herz
klopfte zum Zerspringen. Ich ließ mich auf den Boden sinken, bis meine Knie die
weiche, frisch umgegrabene Erde berührten.
»Siehst
du?«, sagte die Stimme, von der ich nicht genau wusste, woher sie kam. Mit
wachsender Angst richtete ich meine Taschenlampe auf das Grab.
Es lag noch
ein Toter darin.
8
Tolliver schien wie erstarrt und verharrte reglos auf der
anderen Seite des Grabs.
»Wenigstens
bin ich nicht reingefallen«, brachte ich gerade noch hervor. Meine Stimme klang
heiser und hörte sich in meinen Ohren ganz komisch an.
»Er hat dich
gewarnt«, sagte Tolliver.
»Du hast ihn
gesehen? Klar und deutlich?«
»Nur seine
Silhouette«, sagte er, und selbst Tollivers Stimme klang gepresst und atemlos.
»Ein kleiner Mann mit einem Bart.«
Das war das
erste Mal, dass uns so etwas passierte. Als wären wir jahrelang Buchhalter
gewesen, um dann plötzlich mit völlig unbekannten Zahlen konfrontiert zu
werden, die wir innerhalb von Minuten verbuchen müssen.
Tolliver
taumelte um das Grab herum, um sich neben mich zu knien. Er legte beide Arme um
mich, und wir klammerten uns aneinander. Wir zitterten, zitterten wie Espenlaub
- nicht wegen der Kälte, sondern wegen der Gegenwart des Unbekannten. Ich
machte ein kleines Geräusch, das verdächtig viel Ähnlichkeit mit einem Jammern
hatte. Tolliver sagte: »Hab keine Angst«, und ich drehte ein wenig den Kopf, um
ihm zu sagen, dass ich auch nicht mehr Angst hätte als er - mit anderen Worten,
ziemlich viel. Er küsste mich auf die Wange, und ich war dankbar für seine
Wärme.
»Das ist ein
dünner Ort«, brachte ich nach einer Weile heraus.
»Was soll
denn das sein?«, fragte Tolliver.
»Ein Ort, wo
die andere Welt ganz nah an dieser Welt ist und beide nur durch eine dünne
Membran
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