Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
erst wieder
beruhigen, meine Mitte finden. Und das war gar nicht so einfach, da es wegen
der frischen Leiche wie wahnsinnig in meinen Ohren summte.
Um Clyde Nunleys Leiche so nahe wie möglich zu kommen, ohne in
das offene Grab zu fallen - was Beweismaterial beschädigt oder vernichtet hätte
-, legte ich mich auf den Bauch, robbte an den Rand und streckte eine Hand nach
ihm aus. Tolliver hielt mich an den Beinen fest. Das Loch war nicht besonders
tief, und es gelang mir, Dr. Nunleys Hemd an seinem Rücken zu berühren.
Sein Tod war
so frisch, dass er ein unablässiges Dröhnen in meinem Kopf auslöste und mich
beinahe um den Verstand brachte. Ich musste warten, bis es nachließ, bevor ich ein
Gespür für seinen Tod bekam. »Ein Schlag auf den Kopf«, murmelte ich und wurde
von demselben ungläubigen Erstaunen überwältigt, das er gespürt hatte. »Auf den
Hinterkopf. Er kam völlig überraschend.« Der Schock darüber hing immer noch in
der Luft. Er hatte kein bisschen mit dem Angriff gerechnet.
»Hier?«
»Ja«, sagte
ich und bemühte mich, an die Bilder seiner letzten Lebensminuten zu kommen. Die
Leiche war noch so frisch, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.
Ich sah die Dunkelheit, die Dr. Nunley umgab, die Grabsteine, und alles war
genau wie jetzt: die Kälte, der unebene Boden, die umgegrabene Erde. »Oh, tut
das weh! Nein! Mein Kopf!« Dann kam das Loch auf mich zu, ich schaffte es
nicht, die Arme auszustrecken, um meinen Sturz abzufangen, alles um mich herum
wurde grau ... und schließlich schwarz.
Die Schwärze
drohte mich beinahe zu verschlingen, als mich Tolliver zurückriss und mich an
sich zog.
»Hier, mach
den Mund auf«, sagte er und wiederholte seine Aufforderung erneut. »Los, mach
schon!«
Ich öffnete
die Lippen, und er schob mir ein Pfefferminzbonbon dazwischen.
»Komm, du
brauchst dringend etwas Zucker«, sagte er in einem scharfen Befehlston.
Er hatte
recht. Ich zwang mich, an dem Bonbon zu lutschen, und innerhalb weniger Minuten
fühlte ich mich besser. Als Nächstes kam ein Butterkeks.
»So schlimm
war es noch nie«, sagte ich mit schwacher Stimme. »Wahrscheinlich, weil die
Leiche so frisch ist.« Ich hatte Angst, es nicht mehr bis zu unserem Auto zu
schaffen.
»Aber er ist
jetzt weg, oder? Der oder das, was dich zum Stehenbleiben gebracht hat? Ich
habe mir eingebildet, einen Bart zu sehen.«
Manchmal
kommt es vor, dass wir auf eine Seele stoßen, die sich an einen Toten
geklammert hat, aber nur sehr selten. Bis zu dieser Nacht hatte ich gedacht,
das sei das Gruseligste, was uns passieren könnte. Aber jetzt wussten wir, dass
es da noch mehr gab.
»Clyde Nunleys Seele ist weg«, sagte ich, ohne mich näher mit diesem Thema beschäftigen zu wollen. »Und wir sollten auch schon längst weg
sein.« Ich versuchte mich zusammenzureißen.
»Ja«, sagte
Tolliver. »Lass uns verschwinden.«
Ich hatte
mich noch nicht wieder ganz aufgerappelt, als ich erstarrte. »Aber ihn überlassen wir damit sich selbst.«
»Der ist
schon seit Jahrhunderten sich selbst überlassen«, sagte Tolliver; er wusste
sofort, wen ich meinte. »Und das wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben.
Wer weiß, vielleicht hat er sogar Gesellschaft.«
»Ich glaube,
das ist die merkwürdigste Unterhaltung, die wir je geführt haben.«
»Das glaube
ich auch.«
»In diesem
Moment möchte ich niemand anders dabei haben als dich«, sagte ich. »Ich bin so
froh, dass du ihn auch gesehen hast.«
»So etwas
ist noch nie passiert, stimmt's? Du hast noch nie etwas Derartiges erwähnt.«
»Nein, noch
nie. Ich habe schon mal gespürt, dass sich manche Seelen noch an den Körper
klammern, und mich gefragt, ob das wohl Geister sind. Ich habe mich immer
gefragt, ob ich wohl eines Tages einen Geist sehen werde, und war ein bisschen
enttäuscht, dass es mir nicht gelungen ist, zumindest nicht richtig. Oh Gott,
Tolliver. Er hat mich davor bewahrt, ins offene Grab und auf die Leiche zu
fallen. Das ist das erste Mal, dass ich einen Geist sehe, und er rettet mich.«
»Hattest du
Angst?«
»Nicht, dass
er mir wehtut. Aber ich hatte Angst, weil es gruselig war und ich nicht wusste,
wie ich ihm helfen soll. Keine Ahnung, warum er sich nicht weiter verwandeln
kann oder will. Ich weiß nicht, wie er Zeit wahrnimmt, ich weiß nicht, was er
im Schilde führt. Und mittlerweile sind all seine Leute weg, nehme ich an.
Niemand ist übrig, der ihn besuchen kommt oder... « Ich verstummte, aus Angst,
zu rührselig zu
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