Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
und mich überhaupt
eingeladen hatte.
Ich fragte
mich mehr oder weniger dasselbe, insofern konnte ich ihm keinen Vorwurf machen.
Komischerweise waren wir bei unserem letzten Auftrag auch vom Kunden zum Mittagessen
eingeladen worden. Aber normal war das nicht. Normalerweise verließen wir eine
Stadt genauso schnell, wie wir gekommen waren. Ich vermeide es nach
Möglichkeit, mich mit Kunden anzufreunden. Dadurch verstrickt man sich nur in
ihre Probleme, und das bedeutet meistens Ärger. Ich nahm mir fest vor, dass mir
das nie wieder passieren würde.
Ben und Judy schienen beschlossen zu haben, sich um mich und Tolliver
zu kümmern. Da sie uns hartnäckig von Gast zu Gast zerrten, konnten wir
niemandem ausweichen.
»Und das ist
die frühere Schwägerin unseres Sohnes Joel, Felicia Hart«, sagte Judy, und ihre Stimme wurde deutlich kühler. »Freds Tochter.«
»Joels erste
Frau, Whitney, war einfach ein Schatz«, erklärte Ben, wie um nicht sagen zu
müssen, dass das nicht für Whitneys Schwester galt. Hier gab es offensichtlich
böses Blut. Ich fragte mich, was da wohl vorgefallen war, dass die Morgensterns
senior Felicia so heftig ablehnten.
»Wir kennen
Felicia«, sagte ich, und zwar im selben Moment, in dem Felicia sagte: »Ich war
vorgestern selbstverständlich mit Joel und Diane bei Tolliver und Harper im Hotel.« Sie gab uns selbstbewusst die Hand, aber
ihr Blick war nicht so freundlich wie ihre Geste. Ich hatte nicht angenommen,
dass sie mich besonders beachten würde, aber was Tolliver betraf, so hatte ich
schon eine positive Reaktion erwartet.
Doch
stattdessen wirkte sie eher explosiv auf mich. Und zwar nicht auf die
leidenschaftliche ›Nimm-mich-in-die-Arme‹-, sondern auf die ›Ich-könnte-dich-in-die-Luft-sprengen‹-Art.
Ich beschloss,
der Sache nachzugehen. Was war nur mit ihr los? Vielleicht erwartete sie, dass
Tolliver ihre frühere Beziehung vor ihrem Vater erwähnte. Oder aber sie war
Davids Meinung und fand, dass wir auf so einem Familientreffen nichts zu suchen
hatten. (Andererseits hatte sie, was Joels neue Familie anging, im Grunde nicht
mehr viel zu sagen.) Wenn Letzteres zutraf, wäre das wirklich eine Schande.
Wenn Tolliver gut genug war, um mit ihr ins Bett zu gehen, war er auch gut
genug, um das Brot mit ihren Liebsten zu brechen. Während ich mich zunehmend
verspannte und auf einen günstigen Moment wartete, um eine spitze Bemerkung zu
machen, drückte Tolliver meine Hand. Ich entspannte mich wieder. Er gab mir
unmissverständlich zu verstehen, dass Felicia sein Problem war.
Nachdem ich
kurz mit Dianes Freundinnen Esther und Samantha geplaudert hatte, versuchte ich
ein ruhiges Eckchen zu finden, in dem ich mich verkriechen konnte. Nicht nur,
weil mich die vielen unterschwelligen Emotionen ziemlich anstrengten, sondern
auch, weil mein Bein wehtat. Es kribbelte und drohte jeden Moment nachzugeben.
Ich fand
einen freien Sessel neben jemandem, der sich hier genauso fremd zu fühlen
schien wie ich: Victor, Joels Sohn aus erster Ehe. Der Junge - oder junge Mann
- hatte sich auffällig von den anderen abgesondert und saß zusammengesunken in
einem Sessel in der Ecke. Er sah mich besorgt an, als ich auf ihn zukam und
mich vorsichtig in den weichen Sessel neben ihm sinken ließ. Victor nickte mir
kurz zu und starrte dann wieder auf seine Hände.
Ich war mir
sicher, dass sich Victor in diesem Moment ebenfalls an unsere Begegnung in Nashville erinnerte, daran, wie er in einem anderen
Wohnzimmer komplett die Beherrschung verloren und sich an meiner Schulter
ausgeheult hatte. Ehrlich gesagt, hatte mir dieser Vertrauensbeweis damals sehr
gut getan.
Doch Victor
würde sich wohl eher mit Bedauern an seinen Zusammenbruch erinnern.
Eines wusste
ich jedoch ganz bestimmt, nämlich dass Victor diese
Versammlung zum Kotzen fand. Er versuchte, den Erwachsenen so weit als möglich
aus dem Weg zu gehen. Er hatte gute Manieren und war in den vergangenen Monaten
größer und erwachsener geworden - trotzdem war er immer noch ein Teenager, der
lieber mit seinen Kumpels herumgezogen wäre, statt auf dieser trostlosen Familienveranstaltung
herumzuhängen.
Diesbezüglich
konnte ich Victor wirklich keinen Vorwurf machen.
Das Haus war
voller Leute, die nicht besonders scharf auf uns waren. Manche davon heuchelten
Freude, andere bemühten sich nicht mal darum. Selbst unsere Gastgeber kamen nur
einer eingebildeten Verpflichtung nach.
Dabei konnte
ich sie sogar gut verstehen. Doch da waren wir nun, ohne die
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