Harper Connelly 04 - Grabeshauch
ins Krankenhaus zu bringen.«
»Und die Fotos?«
»Er will Fotos von Gracie. Er hat nur welche von Mariella gemacht, damit man ihm seine Geschichte abnimmt«, sagte Tolliver.
»Wie kommst du darauf?«
»Vielleicht ist er zur Eisbahn gekommen, weil er dachte, dort unbemerkt Fotos von Gracie machen zu können. Aberwir haben ihn vorher entdeckt, und die Mädchen hatten Angst vor ihm. Er hatte schon damit begonnen, Kontakt zu Iona und Hank
aufzunehmen, indem er ihnen einen Brief schrieb. Als er nichts von ihnen hörte, wollte er sie wahrscheinlich umgehen. Nachdem
das auch nicht funktioniert hatte, versuchte er eine erneute Annäherung, und diesmal klappte es. Iona und Hank wollten ihn
entmystifizieren, damit sich die Mädchen nicht mehr so fürchten müssen. Also taten sie so, als wäre sein Besuch völlig normal.
Sie haben das Richtige getan, allerdings ohne sein wahres Motiv zu kennen.«
»Und was sollen wir jetzt machen?« Ich hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich
kann es einfach nicht fassen. Und was hat Cameron mit alldem zu tun? War es nur ein Zufall, dass sie damals verschwand?«
»Vielleicht bilden wir uns das alles bloß ein«, sagte Tolliver. »Vielleicht sind wir genauso blöd wie die Leute, die glauben,
JFK wäre von Marsmenschen erschossen worden.«
»Ich wünschte, es wäre so«, sagte ich. »Ich wünschte es
wirklich
.«
»Ob Mark irgendwas weiß?«, überlegte Tolliver laut.
»Wir könnten ihn anrufen.«
»Ja, aber Dad wohnt bei ihm.«
»Vielleicht kann er uns irgendwo treffen.«
»Wir rufen ihn morgen an. Danach fahren wir nach Texarkana.«
»Traust du dir das wirklich zu? Du hast die Antibiotika noch nicht zu Ende genommen.«
»Ich glaube, dafür geht es mir gut genug.«
»Logisch, Dr. Lang.«
»He, es gibt Wichtigeres, worüber wir uns Gedanken machen müssen, als meine Schulter!«
»Mal sehen, was der Arzt morgen sagt«, meinte ich, woraufhiner sich von mir gegängelt fühlte. Ich fand es schön, mich um ihn zu kümmern. So sehr mich der Verdacht gegen Tollivers Dad
umtrieb, so stolz war ich auch, alles so gut hinbekommen zu haben. Nach weiteren ergebnislosen Gesprächen gingen wir ins Bett,
doch in dieser Nacht dürfte keiner von uns beiden besonders gut geschlafen haben. Als Tolliver eindöste, redete er im Schlaf,
und das tut er nur, wenn er wirklich erschüttert ist.
» Rette sie!
«, sagte er.
19
Anstatt eine Schwester zu fragen, sprach ich am nächsten Morgen direkt mit Dr. Spradling. Zu meiner Überraschung fand auch er, dass es Tolliver gut genug ginge, um einen kurzen Ausflug unternehmen zu können
– vorausgesetzt, er musste nichts heben und überanstrengte sich nicht.
Die Aussicht auf den Ausflug veränderte Tolliver vollkommen. Zur Tatenlosigkeit verdammt, hatte er sich vorher wie ein Todkranker
gefühlt. Jetzt hielt er sich für einen Gesunden mit vorübergehenden Beschwerden. Ich war entzückt (und erleichtert), dass
sein Gesicht und sein Körper erneut Energie und Entschlossenheit ausstrahlten. Aber ich ermahnte mich, nicht zu vergessen,
dass ich mich um ihn kümmern musste.
Da wir nicht mehr ans Krankenhaus gefesselt waren, checkten wir aus dem Hotel aus. Wir wussten nicht, was der Tag bringen
würde, und auch nicht, ob wir nach Garland zurückkämen, um dort zu übernachten.
Es tat so gut, den Vorstadtsiedlungen zu entrinnen! Wir waren wieder gemeinsam auf der Interstate unterwegs. Für eine Stunde
gelang es uns, unsere Probleme zu vergessen. Aber je näher Texarkana kam, desto mehr verstörende Fragen quälten uns.
Wir fuhren an der Ausfahrt Clear Creek vorbei, und ich sagte: »Vielleicht müssen wir nachher hier anhalten.«
Tolliver nickte. Wir waren inzwischen kurz vor Texarkana und nicht sehr gesprächig.
Texarkana liegt bekanntlich an der Staatsgrenze zu Arkansas und hat etwa fünfzigtausend Einwohner. Entlang der Interstate,
die eine Schneise durch den Norden der Stadt schlägt, sind Gewerbegebiete entstanden. Gewerbegebiete mit den üblichen Verdächtigen.
Wir hatten nicht dort gewohnt, sondern in einem heruntergekommeneren Teil. Dabei ist Texarkana auch nicht besser oder schlechter
als jede andere Südstaatenstadt. Die meisten unserer Mitschüler stammten aus normalen Familien und hatten normale Eltern.
Wir hatten einfach Pech gehabt.
Die Straße, in der wir gelebt hatten, war von Wohnwagen gesäumt. Das hatte den Vorteil, dass sie sich nicht zu kleinen
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