Harper Connelly 04 - Grabeshauch
reinkommen«, flüsterte ich leise. »Ist das in Ordnung?«
»Ja«, sagte er, und wir gingen zur Veranda.
»Was ist denn mit dir passiert, Tolliver?«, fragte Tammy. »Du bist ja verletzt.«
»Ich wurde angeschossen«, erwiderte er.
In diesem Haushalt wunderte das niemanden, sodass Tammy bloß sagte: »So ein Pech aber auch!«, bevor sie zur Seite trat und
uns hereinließ.
Das Haus war winzig, aber da es nicht viele Möbel gab, fühlte man sich nicht übermäßig beengt. Das Wohnzimmer bot Platz für
ein Sofa, auf dem eine in Decken gehüllte Gestalt lag, sowie für einen durchgesessenen Lehnstuhl. Darin pflegte sich Tammy
aufzuhalten. Daneben stand ein altes Fernsehmöbel samt Fernbedienung, Kleenex und einer Schachtel Zigaretten. Es roch nach
Rauch.
Wir umrundeten das Sofa und warfen einen Blick auf den darauf liegenden Mann. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass es Renaldo
war, hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Renaldo, ebenfalls ein Mulatte, hatte helle Haut, einen dünnen Schnurrbart und einen
Zopf gehabt. Jetzt trug er einen Kurzhaarschnitt. Irgendwann einmal hatte Renaldo für hiesige Verhältnisse viel Geld besessen.
Damals hatte er als Mechaniker bei einem Autohaus gearbeitet, aber seine Drogensucht hatte ihn den Job gekostet.
Renaldos Augen waren geöffnet, aber ich wusste nicht, ob er unsere Anwesenheit mitbekam.
»He, Schatz!«, rief Tammy. »Schau mal, wer da ist. Tolliver und seine Schwester, weißt du noch? Matthews Kinder?«
Renaldos Lider flatterten, und er murmelte: »Natürlich erinnere ich mich.«
»Es tut mir leid, dass es dir so schlecht geht«, sagte Tolliver ebenso aufrichtig wie taktvoll.
»Ich kann nicht mehr laufen«, erwiderte Renaldo. Ich sah mich nach einem Rollstuhl um und entdeckte einen zusammengeklappt
vor der Hintertür in der Küche. Da das Haus so klein war, schien das Aufklappen des Rollstuhls reine Zeitverschwendung zu
sein, aber wahrscheinlich konnte Tammy Renaldo nicht heben.
»Wir hatten einen Unfall«, sagte Tammy. »Vor ungefähr drei Jahren. Wir sind wirklich ganz schöne Pechvögel. Hier, Harper,
nimm diesen Stuhl, ich hole noch zwei aus der Küche.«
Tolliver war frustriert, weil er das nicht tun konnte, aber Tammy machte es nichts aus, selbst zu gehen. Sie war einen hilflosen
Mann gewohnt. Ich stellte keine weiteren Fragen zu Renaldos Gesundheitszustand, denn mehr wollte ich lieber gar nicht wissen.
Er sah schlimm aus.
»Tammy«, begann Tolliver, nachdem er und unsere Gastgeberin sich in die Klappstühle gequetscht hatten, die kaum noch ins Zimmer
passten. »Wir müssen uns über den Tag unterhalten, an dem mein Vater hier war. Der Tag, an dem Cameron entführt wurde.«
»Oh, logisch, worüber solltet ihr sonst reden wollen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wir sind es leid, darüber zu reden,
stimmt’s, Renaldo?«
»Ich bin es nicht leid«, sagte er mit einer merkwürdig gedämpften Stimme. »Diese Cameron war ein hübsches Mädchen. Wirklich
schlimm, dass sie verschwand.«
Ich fühlte mich, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. Bei der Vorstellung, dass jemand wie Renaldo meine Schwester angaffte,
zog sich alles in mir zusammen. Aber ich versuchte, freundlich zu bleiben. »Kannst du uns bitte noch einmal erzählen, was
an jenem Tag passiert ist?«, sagte ich.
Tammy zuckte die Achseln. Sie zündete sich eine Zigarette an, und ich versuchte, so lange wie möglich die Luft anzuhalten.»Das ist schon lange her«, sagte sie. »Ich kann es kaum fassen, dass Renny und ich schon so lange zusammen sind, stimmt’s,
mein Schatz?«
»Das war eine schöne Zeit«, sagte er angestrengt.
»Ja, wir hatten auch gute Zeiten«, sagte sie gnädig. »Aber die sind jetzt vorbei. Nun, an jenem Nachmittag rief euer Vater
an. Er wollte irgendwelche Geschäfte mit Renny machen. Den Cops hat er erzählt, dass er mit Renny Sachen zum Recyclinghof
bringen wollte, aber das stimmt nicht. Wir hatten zu viele Oxys da, und dein Dad besaß Ritalin, das er dagegen eintauschen
wollte. Deine Mom liebte Oxys.«
»Meine Mom liebte alles«, sagte ich.
»Das kannst du laut sagen, mein Kind«, erwiderte Tammy. »Sie liebte ihre Pillen.«
»Und Alkohol«, sagte ich.
»Das auch«, meinte Tammy. Sie sah mich an. »Aber du bist nicht wegen deiner Mutter gekommen. Sie ist tot.«
Ich verstummte.
»Mein Dad wollte also vorbeischauen«, sprang Tolliver ein.
»Ja«, sagte Tammy und zog so fest an ihrer Zigarette, dass ich einen Hustenanfall
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