Harper Connelly 04 - Grabeshauch
die Sex erwarten, wenn sie dich nur oft genug ausführen.«
»Warum sollten sie einen dann noch ausführen?«, fragte sie verwirrt.
Aber das war nichts im Vergleich zu der Verwirrung, die ich empfand. »Ein Junge sollte mit dir ausgehen, weil er gern mit
dir zusammen ist«, sagte ich. »Weil ihr über dasselbe lachen könnt oder euch für dieselben Dinge interessiert.« Soweit die
Theorie. Aber was war mit der Praxis? Solche Themen waren eigentlich noch gar nichts für Mariella. Sie war schließlich erst
zwölf.
»Er sollte also ein Freund sein.«
»Ja, genau.«
»Ist Tolliver dein Freund?«
»Ja, er ist mein bester Freund.«
»Aber ihr, du weißt schon …«
Sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen, wofür ich ihr sehr dankbar war.
»Das geht nur uns etwas an«, sagte ich. »Wenn alles passt, bedeutet es einem so viel, dass man nicht mit anderen darüber reden
will.«
»Oh.« Mariella wurde nachdenklich. Das hoffte ich zumindest. Ich hoffte, dass ich mir nicht gerade einen Riesenschnitzer geleistet
hatte. Ich hatte ihr eben erst gesagt, dass sie keinen Sex mit Jungs haben sollte, mit denen sie ausging. Und dann hatte ich
ihr nicht widersprochen, als sie vermutete, dass Tolliver und ich genau das taten. Ich fühlte mich vollkommen unfähig.
Ich war dermaßen erleichtert, dass Tolliver und Gracie auf uns warteten, dass ich regelrecht auf sie zurannte. Tolliver sah
mich misstrauisch an, aber Gracie war einfach nur ungeduldig.
»Kommt, holen wir unsere Schlittschuhe«, sagte sie. »Ich möchte lossausen!«
Nachdem alle ihre Schuhe anhatten, wir den Mädchen auf die Bahn geholfen und festgestellt hatten, dass alles in Ordnung war,
solange sie an der Bande blieben, begannen wir selbst eine Runde zu drehen. Wir hielten uns an den Händen und fuhren erst
noch ganz langsam, schließlich waren wir bestimmt seit acht Jahren aus der Übung. Ganz in der Nähe des Wohnwagens hatte es
auch eine Eisbahn gegeben, und da das Schlittschuhlaufen damals kaum etwas kostete, hatten wir dort viele Stunden verbracht.
Wir genossen die paar gemeinsamen Runden und kehrten anschließend zu unseren Schwestern zurück. Die stritten sich bereits,
wer von ihnen die Bessere war. Tolliver nahm Mariella und ich Gracie an die Hand. Wir zogen sie von der Bande weg und fuhren
ganz langsam und vorsichtig mit ihnen im Kreis herum. Ich konnte nicht verhindern, dass Gracie einmal stürzte, ein anderes
Mal riss sie mich mit zu Boden. Aber am Ende hatte sie Riesenfortschritte gemacht. Mariella, dienach der Schule Basketball spielte, hatte sich deutlich besser angestellt und neigte dazu, damit anzugeben, bis Tolliver sie
zum Schweigen brachte.
Wir wollten die Bahn gerade lachend verlassen, als mir auffiel, dass uns jemand beobachtete: ein grauhaariger, etwa 1,78 Meter großer, sehr muskulöser Mann. Mein Blick huschte über ihn und kehrte zu seinem Gesicht zurück. Ich kannte ihn. Ich sah
ihm direkt in die dunklen Augen.
»Hallo, Dad«, sagte Tolliver.
5
Unsere Schwestern schmiegten sich an uns und starrten ihren leiblichen Vater mit einer Mischung aus Hass und Sehnsucht an
– zumindest Gracie. Mariella schien ihm noch feindlicher gesinnt zu sein. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten.
Er war nicht mein Vater. Meine Gefühle waren relativ eindeutig. »Matthew«, sagte ich. »Was machst du denn hier?«
Er warf Tolliver und Mariella einen sehnsüchtigen Blick zu. Mich musterte er nur kurz, ohne jede Zuneigung. Gracie versteckte
sich hinter mir. »Ich möchte meine Kinder sehen«, sagte er. »Und zwar alle.«
Ein langes Schweigen entstand. Ich musste erst einmal die Tatsache verdauen, dass seine Stimme klar war. Er lallte nicht und
sprach in zusammenhängenden Sätzen. Vielleicht nahm er tatsächlich keine Drogen mehr, so wie Mark gesagt hatte. Aber es war
bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis er wieder damit anfing.
»Aber wir wollen dich nicht sehen!«, sagte Tolliver leise. »Wir haben nicht reagiert, als du über Mark versucht hast, Kontakt
zu uns aufzunehmen. Ich habe deine Briefe nicht beantwortet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Iona dir erlaubt hat,
die Mädchen zu sehen – jetzt wo sie auch offiziell die Mutter ist. Und Hank ihr Vater.«
»Aber ich bin ihr leiblicher Vater«, sagte Matthew.
»Du hast sie im Stich gelassen«, rief ich ihm wieder ins Gedächtnis, wobei ich jedes Wort einzeln betonte.
»Ich stand enorm unter Druck.« Er streckte die Hand aus,
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