Harper Connelly 04 - Grabeshauch
Mark: »Ich habe überlegt, ob ihr
vielleicht zu mir kommen und bei mir wohnen wollt. Solange, bis du wieder gesund bist.«
»Zu dir nach Hause?«, fragte Tolliver, als wäre das etwas völlig Abwegiges. Wir waren genau ein Mal bei Mark gewesen. Er hatte
uns zum Abendessen eingeladen, aber die Gerichte kommen lassen. Er lebte in einer stinknormalen Dreizimmerwohnung mit Gartenanteil.
»Ja, warum nicht? Da Harper und du …«, er machte eine vage Geste, die wohl besagen sollte, dass wir miteinander schliefen, »… könnt ihr euch ja ein Bett teilen. Es ist also Platz genug.«
»Dad schläft also in dem anderen Zimmer?« Tolliver sah seinen Vater nicht an, während er mit Mark sprach, was diesem bestimmt
nicht entgangen war.
»Ja, genau«, sagte Mark. »Das war naheliegend, da er im Moment nicht viel verdient und das Zimmer ohnehin leer steht.«
»Ich habe uns schon eine Hotelsuite gebucht«, sagte ich betont sachlich. Ich wollte niemanden brüskieren.
Aber mein Wunsch schien nicht in Erfüllung zu gehen.
»Jetzt hör mir mal zu!«, sagte Mark hochrot, wie immer, wenn er wütend wurde. »Halt dich da raus, Harper. Das ist mein Bruder,
und ich werde ihn doch wohl noch fragen dürfen, ob er bei mir wohnen will. Das ist sein gutes Recht. Er gehört schließlich
zur Familie.«
Jetzt war ich nicht nur wütend, sondern auch verletzt. Es war mir egal, ob ich je zu Matthews Familie gehören würde, aber
Mark und ich hatten gemeinsam viel durchgemacht. Ich dachte, wir Kinder wären unsere eigene Familie gewesen. Ich spürte, wie
ich meinerseits rot wurde.
»Mark!«, sagte Tolliver scharf. »Harper ist meine Familie. Und das schon seit Jahren. Deine übrigens auch. Du weißt
bestimmt
noch, wie sehr wir damals zusammenhalten mussten.«
Mark starrte zu Boden. Es war kaum mit anzusehen, wie hin- und hergerissen er war.
»Ist schon gut, Mark«, sagte Matthew. »Ich verstehe, was sie sagen wollen. Ihr musstet zusammenhalten. Laurel und ich haben
nicht gerade viel zu einer funktionierenden Familie beigetragen. Wir waren zusammen, aber wir waren keine richtige Familie.
Tolliver hat recht.«
Jetzt übertreibt er es aber
, dachte ich.
»Dad«, murmelte Mark, als wäre er wieder siebzehn. »Du hast versucht, uns zusammenzuhalten.«
»Das habe ich auch«, sagte Matthew. »Aber dann kam meine Sucht dazwischen.«
Ich musste mich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Schmierentheater. Tolliver musste schon wieder mit ansehen, wie sein
Vater den Büßer spielte, ließ sich aber nichts anmerken. Es gibt Momente, in denen ich nicht weiß,was Tolliver durch den Kopf geht, und das war einer davon. Vielleicht ließ er sich von seinem Vater erweichen, vielleicht
malte er sich auch aus, ihn umzubringen. Wahrscheinlich Letzteres.
»Tolliver, bitte, gib mir eine Chance, dich neu kennenzulernen«, flehte sein Vater.
Ein langes Schweigen entstand. Mark sagte: »Weißt du noch, als Gracie so krank war? Weißt du noch, wie Dad sie ins Krankenhaus
brachte? Die Ärzte haben ihr Antibiotika gegeben, und anschließend ging es ihr besser.«
Das hatte ich ganz vergessen. Es war schon lange her. Gracie war noch sehr klein gewesen, vielleicht vier Monate alt. Wie
alt ich wohl gewesen war? Fünfzehn? Es war sehr peinlich gewesen, noch eine kleine Schwester zu bekommen, ganz einfach deswegen,
weil es bewies, dass meine Mutter und ihr Mann tatsächlich Sex hatten.
Es ist schon erstaunlich, was einem mit fünfzehn alles peinlich sein kann.
Damals kannte ich mich schon ziemlich gut mit Babys aus, schließlich mussten wir uns bereits um Mariella kümmern. Als unsere
erste Halbschwester zur Welt kam, war es meiner Mutter noch etwas besser gegangen. Zumindest einen Teil der täglichen Pflege
hatte sie übernommen, sodass wir Mariella zu Schulzeiten bei ihr lassen konnten. Als dann Gracie untergewichtig und kränklich
geboren wurde, kam das überhaupt nicht mehr infrage. Warum man Mom Gracie nicht gleich im Krankenhaus wegnahm, ist mir ein
Rätsel. Wir hatten uns fast gewünscht, dass jemand das getan hätte. Oder dass Mom zur Vernunft gekommen wäre und Gracie zur
Adoption freigegeben hätte.
Doch nichts von alledem war geschehen. Also hatten Cameron und ich abwechselnd bei anderen Familien als Babysitter gejobbt.
Die Jungs hatten Geld verdient, undMatthew hatte auch manchmal gearbeitet. So hatten wir die Mädchen zu einer Tagesmutter geben können, wenn wir nicht zu Hause
waren.
Doch dann war Gracie,
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