Harry Bosch 03 - Die Frau im Beton
überblicken konnte. Er zog sich die Handschuhe an und begann, die Schreibtischschubladen zu durchsuchen. Er fand nicht, was er suchte, merkte aber, daß sie schon jemand durchstöbert hatte. Sachen lagen durcheinander in den Schubladen, Aktenseiten lagen lose herum. Es sah nicht so ordentlich aus wie Chandlers Sachen auf dem Klägertisch.
Er sah unter der Schreibunterlage nach, aber das Schreiben des Jüngers lag nicht dort. Auf dem Tisch lagen zwei Bücher, Black’s Rechtswörterbuch und Kalifornisches Strafrecht. Er blätterte beide Bücher durch, fand jedoch den Brief nicht. Dann lehnte er sich auf dem ledernen Schreibtischstuhl zurück und sah sich die zwei Bücherwände an.
Nach seiner Schätzung würde es zwei Stunden dauern, alle Bücher durchzusehen, und vielleicht würde er den Brief trotzdem nicht finden. Dann entdeckte er einen rissigen grünen Buchrücken auf dem zweithöchsten Regalbrett in der Nähe des Fensters. Er erkannte das Buch wieder. Chandler hatte während ihres Plädoyers daraus vorgelesen. Es war Der Marmorfaun. Er stand auf und zog das Buch heraus.
Das Schreiben befand sich zusammengefaltet in der Mitte des Buches. Und der Umschlag. Bosch bemerkte, daß er sich in bezug auf sie nicht geirrt hatte. Das Schreiben war eine Fotokopie des Briefes, der im Polizeirevier am letzten Montag, dem Tag der Eröffnungsplädoyers, abgegeben worden war. Anders war jedoch das Kuvert, es war nicht abgegeben, sondern mit der Post geschickt worden. Der Brief war in Van Nuys am Samstag vor der Prozeßeröffnung abgestempelt worden.
Bosch besah sich den Stempel und wußte, es war unmöglich, den Weg des Briefs zurückzuverfolgen. Auf dem Umschlag waren sicher auch zahlreiche Fingerabdrücke von Postangestellten. Der Brief hatte wahrscheinlich geringen Wert als Beweisstück.
Er verließ das Büro und nahm das Schreiben und das Kuvert mit den Handschuhen an den Ecken haltend mit, um oben jemanden von der Spurensicherung zu finden, der eine Plastiktüte hatte. Als er durch die Tür ins Schlafzimmer schaute, sah er, wie der Assistent der Gerichtsmedizin und zwei Leichenschlepper einen Plastiksack auf einer Trage ausbreiteten. Die öffentliche Zurschaustellung von Honey Chandler würde gleich vorüber sein. Bosch machte einen Schritt zurück, um nicht zusehen zu müssen. Edgar trat zu ihm, nachdem er das Schreiben gelesen hatte, das der Techniker etikettierte.
»Er hat ihr den gleichen Brief geschickt? Wieso?«
»Ich schätze, er wollte sicherstellen, daß wir das Schreiben nicht für uns behielten. Dann hätte sie es zur Sprache gebracht.«
»Wenn sie den Brief sowieso hatte, warum hat sie dann für unser Exemplar Beweismittelaufnahme beantragt? Sie hätte den hier zum Gericht bringen können.«
»Wahrscheinlich dachte sie, sie könnte mehr Kapital aus unserem schlagen. Dadurch, daß es die Polizei übergab, wurde es in den Augen der Geschworenen glaubwürdiger. Wenn sie nur ihr Exemplar vorgelegt hätte, hätte mein Anwalt es eventuell torpedieren können.«
Edgar nickte.
»Übrigens«, sagte Bosch, »wie bist du hier reingekommen?«
»Die Vordertür war unverschlossen. Keine Kratzspuren am Schloß oder sonst etwas, was auf Einbruch schließen läßt.«
»Der Jünger kam und wurde hereingelassen … Er hat sie nicht irgendwohin gelockt. Irgend etwas geht hier vor sich. Er ändert seine Masche, beißt und fügt Brandwunden zu. Er macht Fehler. Irgend etwas scheint ihn aufzuregen. Warum hat er sie ausgewählt, statt sich wie bisher seine Opfer aus den Sexblättern zu bestellen?«
»Schade, daß Locke der Verdächtige ist. Es wäre gut wenn wir ihn fragen könnten, was das alles bedeutet.«
»Detective Harry Bosch!« rief eine Stimme von unten. »Harry Bosch!«
Bosch ging zum Treppenabsatz und schaute nach unten. Der junge Streifenpolizist, der mit der Anwesenheitsliste hinter der Absperrung gestanden hatte, sah nach oben.
»Ein Typ an der Absperrung will rein. Sagt, er ist Psychiater und arbeitet mit Ihnen zusammen.«
Bosch sah zu Edgar hinüber. Ihre Augen trafen sich. Er schaute wieder hinunter zum Streifenpolizisten.
»Wie heißt er?«
Der Polizist sah auf sein Klemmbrett und las vor: »John Locke, von der USC.«
»Schicken Sie ihn rein.«
Bosch ging die Treppe hinunter und winkte dann Edgar zu sich. »Ich gehe mit ihm in ihr Büro. Sag Rollenberger Bescheid und komm dann runter.«
Bosch forderte Locke auf, sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch zu setzen, und blieb selbst stehen. Durch
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