Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
einem nackten Mann umarmt wurde. Die Farbe des Gefieders und der Augen stimmten mit der des Plastikvogels aus Edward Gunns Wohnung überein.
»Haben Sie etwas Bestimmtes entdeckt, Terry?«
Er deutete auf die Eule.
»Diese hier. Ich kann Ihnen leider nicht mehr dazu sagen, aber diese hier sieht genau so aus wie die Eule, wegen der ich hier bin.«
»Auf der mittleren Tafel finden sich unzählige Symbole. Das ist eins der augenfälligeren. Nach dem Sündenfall verleitet der freie Wille den Menschen zu Ausschweifung, Völlerei, Torheit und Habgier; die schlimmste aller Sünden ist in Boschs Welt die Wolllust. Der Mensch legt seine Arme um die Eule; er umarmt das Böse.«
McCaleb nickte.
»Und dann bezahlt er dafür.«
»Dann bezahlt er dafür. Wie Sie auf der letzten Bildtafel sehen, handelt es sich hier um die Darstellung einer Hölle ohne Feuer. Sie ist vielmehr ein Ort unzähliger Foltern und nie endender Qualen. Ein Ort der Dunkelheit.«
McCaleb stand lange stumm da, während sein Blick über die Landschaft des Gemäldes wanderte. Ihm fiel ein, was Dr. Vosskuhler gesagt hatte.
Ein Dunkel, tiefer als die Nacht.
12
B osch krümmte seine Hände seitlich um die Augen und legte sie an das Fenster neben der Eingangstür der Wohnung. Er spähte in die Küche. Die Arbeitsflächen waren blitzsauber. Kein Durcheinander, keine Kaffeemaschine, nicht einmal ein Toaster. Ihn beschlich ein ungutes Gefühl. Er kehrte zur Tür zurück und klopfte noch einmal. Dann ging er wartend davor auf und ab. Als er den Blick zu Boden senkte, sah er die Umrisse eines Fußabstreifers, der an dieser Stelle einmal auf dem Beton gelegen hatte.
»Mist.«
Er griff in seine Tasche und holte einen kleinen Lederbeutel heraus. Er öffnete seinen Reißverschluss und nahm zwei kleine Stahldietriche heraus, die er aus Metallsägeblättern gemacht hatte. Als er sich umblickte, war niemand zu sehen. Er befand sich in einer abgeschirmten Nische einer großen Wohnanlage in Westwood. Die meisten Bewohner waren vermutlich noch bei der Arbeit. Er stellte sich vor die Tür und machte sich mit den Dietrichen am Schloss zu schaffen. Anderthalb Minuten später hatte er sie offen und ging nach drinnen.
Sobald er die Wohnung betrat, wusste er, dass niemand mehr dort wohnte. Trotzdem sah er in jeden Raum. Alle waren leer. In der Hoffnung, eine leere Arzneimittelpackung zu finden, sah er sogar in die Hausapotheke im Bad. Auf einem Bord lag ein benutzter Rasierer aus rosa Plastik, sonst nichts.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und nahm sein Handy heraus. Er hatte Janis Langwisers Handynummer erst am Tag zuvor in den Kurzwahlspeicher eingegeben. Sie war die Ko-Anklägerin beim Prozess und hatte mit Bosch das ganze Wochenende an seiner Aussage gearbeitet. Obwohl es schon spät war, erreichte sie sein Anruf noch im provisorischen Büro der Anklagevertretung im Gericht von Van Nuys.
»Ich will Ihnen zwar den Abend nicht verderben, aber Annabelle Crowe ist fort.«
»Was soll das heißen, fort?«
»Es soll heißen, fort, Baby, fort. Ich bin gerade in ihrer Wohnung. Sie ist leer.«
»Scheiße! Wir brauchen sie unbedingt, Harry. Wann ist sie ausgezogen?«
»Keine Ahnung. Ich habe gerade gemerkt, dass sie weg ist.«
»Haben Sie mit dem Hausverwalter gesprochen?«
»Noch nicht. Aber er dürfte kaum viel mehr wissen als den Zeitpunkt, wann sie ausgezogen ist. Wenn sie vor dem Prozess weggelaufen ist, dürfte sie ihm kaum ihre neue Adresse hinterlassen haben.«
»Na schön. Wann haben Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen?«
»Donnerstag. Ich habe sie hier angerufen. Aber heute ist das Telefon abgestellt. Keine neue Nummer.«
»Scheiße!«
»Ich weiß. Haben Sie schon mal gesagt.«
»Aber die Vorladung hat sie gekriegt, oder?«
»Ja, am Donnerstag. Deshalb habe ich sie angerufen. Zur Sicherheit.«
»Na schön, dann taucht sie ja morgen vielleicht auf.«
Bosch sah sich in der leeren Wohnung um.
»Darauf würde ich mal lieber nicht zählen.«
Er sah auf die Uhr. Es war schon fünf vorbei. Weil er sich bei Annabelle Crowe so sicher gewesen war, war sie die letzte Zeugin gewesen, die er aufgesucht hatte. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie sich aus dem Staub machen könnte. Jetzt konnte er die Nacht damit verbringen, nach ihr zu suchen.
»Was können Sie jetzt noch tun?«, fragte Langwiser.
»Ich habe ein paar Informationen über sie, denen ich nachgehen kann. Sie muss noch in der Stadt sein. Sie ist Schauspielerin. Wo sollte sie sonst hin?«
»Nach
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