Harry Bosch 15 - Neun Drachen
und sich selbst die Vergebung, die, so hoffte er, damit einherginge.
Er hatte den Couchtisch beiseitegeschoben und die Teile des Schreibtischs auf dem Wohnzimmerboden ausgebreitet. Laut Bauanleitung ließ er sich mit einem einzigen Werkzeug zusammenbauen – einem kleinen mitgelieferten Inbusschlüssel. Bosch und Madeline saßen im Schneidersitz auf dem Boden und versuchten, aus der Bauanleitung schlau zu werden.
»Anscheinend muss man zuerst die Seitenteile an der Schreibtischplatte befestigen«, sagte Madeline.
»Meinst du?«
»Ja. Schau, alles, was mit Eins gekennzeichnet ist, braucht man für den ersten Schritt.«
»Ach so, ich dachte, das hieße, es gibt jeweils nur eins von diesen Teilen.«
»Nein, denn es gibt zwei Seitenteile, und beide sind mit einer Eins gekennzeichnet. Ich glaube, das bedeutet, dass man sie für den ersten Schritt braucht.«
»Aha.«
Ein Telefon läutete, und sie sahen sich an. Madeline hatte am Tag zuvor ein neues Handy bekommen, und es war wieder ein Modell, das zu dem ihres Vaters passte. Das Problem war nur, dass sie sich noch keinen eigenen Klingelton ausgesucht hatte, weshalb sich beide Telefone gleich anhörten. Sie hatte im Lauf des Vormittags bereits mehrere Anrufe von Freundinnen aus Hongkong bekommen, denen sie per SMS mitgeteilt hatte, dass sie nach Los Angeles gezogen war.
»Das muss deins sein«, sagte sie. »Ich habe meins in meinem Zimmer gelassen.«
Boschs Knie schmerzten vom langen Sitzen im Schneidersitz, als er langsam aufstand. Er schaffte es, zum Esstisch zu kommen und nach dem Handy zu greifen, bevor der Anrufer auflegte.
»Harry, hier Dr. Hinojos, wie geht’s?«
»Ich kann nicht klagen, Doc. Danke, dass Sie zurückrufen.«
Bosch öffnete die Schiebetür und ging auf die Terrasse hinaus, dann zog er die Tür wieder hinter sich zu.
»Entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt zurückrufe«, sagte Hinojos. »Montags ist hier immer der Teufel los. Wo drückt der Schuh?«
Hinojos leitete die Behavioral Science Section des LAPD , die Polizeiangehörige betreute, die psychologische Hilfe benötigten. Bosch hatte sie vor fast fünfzehn Jahren kennengelernt, als sie noch als Therapeutin tätig gewesen war und ein psychologisches Gutachten über ihn erstellt hatte, nachdem er mit seinem Vorgesetzten bei der Hollywood Division massiv aneinandergeraten war.
Bosch versuchte, möglichst leise zu sprechen.
»Ich wollte Sie eigentlich um einen Gefallen bitten.«
»Hängt ganz davon ab, was.«
»Ich möchte, dass Sie mit meiner Tochter reden.«
»Mit Ihrer Tochter? Haben Sie denn nicht mal erzählt, sie lebt bei ihrer Mutter in Las Vegas?«
»Sie sind inzwischen umgezogen. Die letzten sechs Jahre hat sie in Hongkong gewohnt, und jetzt ist sie bei mir. Ihre Mutter ist tot.«
Hinojos antwortete erst nach einer kurzen Pause. Bosch hörte das Anklopfzeichen in seinem Handy, aber er ignorierte den anderen Anruf und wartete.
»Harry, Sie wissen doch, dass wir hier nur Polizeiangehörige beraten, nicht ihre Familienangehörigen. Aber ich kann Ihnen einen Jugendtherapeuten empfehlen.«
»Ich will aber nicht irgendeinen Seelenklempner für Kinder. Wenn ich so jemanden wollte, könnte ich auch im Telefonbuch nachsehen. Deshalb habe ich ja auch gesagt, dass ich Sie um einen Gefallen bitten möchte. Ich möchte, dass sie mit Ihnen redet. Sie kennen mich, ich kenne Sie. Deshalb.«
»So einfach geht das aber nicht, Harry.«
»Sie wurde in Hongkong entführt. Und ihre Mutter kam bei dem Versuch, sie zu befreien, ums Leben. Die Kleine hat also einiges zu verarbeiten, Doc.«
»Oh, mein Gott! Wann war das?«
»Am Wochenende.«
»Harry!«
»Ja, furchtbar. Sie sollte unbedingt mit jemand anderem sprechen als mit mir. Und ich hätte gern, dass Sie das sind, Doctor.«
Eine weitere Pause, und wieder wartete Bosch einfach. Hinojos zu drängen, führte zu nichts. Das wusste Bosch aus eigener Erfahrung.
»Ich könnte mich vielleicht außerdienstlich mit ihr zusammensetzen. Hat sie von sich aus den Wunsch geäußert, mit jemandem zu sprechen?«
»Nein, hat sie nicht. Aber ich habe ihr gesagt, dass ich es gern möchte. Und sie hatte nichts dagegen. Ich glaube, sie wird Sie sympathisch finden. Wann könnten Sie sich mit ihr treffen?«
Bosch wusste, er ging ziemlich weit. Aber er tat es für einen guten Zweck.
»Also, ich hätte sogar heute etwas Zeit«, antwortete Hinojos. »Ich könnte mich nach der Mittagspause mit ihr treffen. Wie heißt sie übrigens?«
»Madeline.
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