Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Sprecher von jemandem unterbrochen?«
»Ich glaube eher, dass eine Lifttür zuging und die Stimme deshalb plötzlich nicht mehr zu hören war.«
Bosch nickte. Das schien die plausiblere Erklärung, denn die Stimme wies keinerlei Anzeichen von Stress auf, bevor sie abgeschnitten wurde.
Starkey deutete auf den Bildschirm.
»Wenn es dir also gelingt, das Haus zu finden, müsste das Zimmer in der Nähe des Aufzugs sein.«
Bosch blickte einen letzten langen Moment auf die Augen seiner Tochter.
»Danke, Barbara.«
Er stand hinter ihr und drückte ihr die Schultern.
»Gern geschehen, Harry.«
»Aber jetzt muss ich los.«
»Du hast gesagt, du musst zum Flughafen. Fliegst du nach Hongkong?«
»Ja.«
»Alles Gute, Harry. Bring deine Tochter heil wieder.«
»Das habe ich fest vor.«
Bosch kehrte hastig zu seinem Auto zurück und fuhr in Richtung Freeway los. Der Feierabendverkehr hatte nachgelassen, und er kam gut voran, als er durch Hollywood zum Cahuenga Pass und zu seinem Haus hinauf fuhr. Er begann, sich auf Hongkong zu konzentrieren. Bald lägen L.A. und die Probleme hier weit hinter ihm. Von nun an drehte sich alles um Hongkong. Er würde seine Tochter finden und nach Hause bringen. Oder er würde bei dem Versuch, sie zu befreien, sterben.
Sein ganzes Leben lang hatte Harry Bosch geglaubt, eine Mission zu haben. Und um diese Mission durchführen zu können, musste er kugelsicher sein. Er musste sich und sein Leben so gestalten, dass er unverwundbar war, dass ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte. Das alles hatte sich an dem Tag geändert, an dem er der Tochter vorgestellt worden war, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie hatte. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er gleichzeitig gerettet und verloren war. Von jetzt an war er mit der Welt für immer auf eine Weise verbunden, wie sie nur ein Vater kannte. Aber zugleich war er auch verloren, weil er wusste, dass die dunklen Mächte, denen er sich entgegenstellte, sie eines Tages finden würden. Da spielte es auch keine Rolle, dass ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag. Er wusste, eines Tages würde die Finsternis sie finden und dazu benutzen, ihn unterzukriegen.
Dieser Tag war jetzt gekommen.
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Teil 2
Der 39-Stunden-Tag
23
B osch fand während des Flugs über den Pazifik nur unruhigen Schlaf. Vierzehn Stunden in der Luft, den Kopf gegen das Flugzeugfenster gedrückt, schaffte er es kein einziges Mal, länger als fünfzehn oder zwanzig Minuten am Stück zu schlafen, ohne dass ihn Gedanken an seine Tochter und die damit verbundenen Schuldgefühle bedrängten und aus dem Schlaf rissen.
Bisher hatte er sich der Angst, den Schuldgefühlen und den schonungslosen Selbstvorwürfen entzogen, indem er den ganzen Tag über eine derart hektische Aktivität entwickelt hatte, dass er gar nicht zum Nachdenken gekommen war. Es war ihm gelungen, alles von sich fernzuhalten, weil ihm die Jagd wichtiger gewesen war als der psychische Ballast, den er mit sich herumschleppte. Aber auf dem Cathay-Pacific-Flug Nummer 883 konnte er nicht mehr davonlaufen. Er wusste, er musste schlafen, um für den Tag, der in Hongkong vor ihm lag, gut ausgeruht und gerüstet zu sein. Doch im Flugzeug saß er in der Falle. Er konnte seine Schuldgefühle und Ängste nicht mehr verdrängen und war ihnen hilflos ausgeliefert. Während der Jet durch die Nacht dem Ort entgegenraste, an dem Madeline versteckt war, saß er mit krampfhaft geballten Fäusten und ausdruckslosem Blick im Dunkeln. Das machte es schwierig, wenn nicht sogar vollkommen unmöglich für ihn, zu schlafen.
Der Gegenwind über dem Pazifik war schwächer als angenommen, und die Maschine machte Zeit gut und landete bereits um 4:55 Uhr auf Lantau Island. Sich rücksichtslos an den anderen Passagieren vorbeizwängend, die ihr Handgepäck aus den Gepäckfächern holten, bahnte sich Bosch seinen Weg zum Ausgang der Maschine. Er hatte nur einen kleinen Rucksack mit Dingen dabei, von denen er glaubte, sie könnten ihm helfen, seine Tochter zu finden und zu retten. Die Flugzeugtür ging auf, und er drängelte sich sofort an die Spitze der Fluggäste, die auf Passkontrolle und Zoll zustrebten. Er näherte sich der ersten Kontrolle – ein Wärme-Scanner zur Erkennung Fieberkranker. Bosch brach der Schweiß aus. Hatten sich seine brennenden Schuldgefühle in einem Fieberanfall niedergeschlagen? Würde er abgeschoben, bevor er überhaupt zum wichtigsten Teil seiner Mission kam?
Im Vorbeigehen blickte er auf den
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