Harry Bosch 15 - Neun Drachen

Jetzt sah Bosch in der verschwommenen Reflexion in der Fensterscheibe, was ihm zuvor entgangen war. In dem Moment, in dem die Kamera wieder auf seine Tochter zurückzuschwenken begann, bewegte sich wie ein Geist ein Hubschrauber durch den oberen Rand der Spiegelung. Es war eine kleine schwarze Maschine, aber die Kennung an ihrer Seite war nicht richtig zu erkennen.
    »Und jetzt das Ganze in Echtzeit.«
    Sie spulte das Video bis zu der Stelle zurück, an der die Kamera noch auf Boschs Tochter gerichtet war und diese gerade danach trat. Starkey drückte auf eine Taste, und die Aufnahme lief mit normaler Geschwindigkeit. Im Bruchteil einer Sekunde schwenkte die Kamera zum Fenster und wieder zurück. Boschs Augen erfassten zwar das Fenster, aber nicht die Spiegelung der Stadt, geschweige denn den vorbeifliegenden Hubschrauber.
    Es war eine wichtige Entdeckung, und Bosch schöpfte neue Hoffnung.
    »Die Sache ist die, Harry. Damit er aus diesem Fenster zu sehen war, muss der Hubschrauber ziemlich tief geflogen sein.«
    »Dann ist er entweder gerade gestartet, oder er hat zur Landung angesetzt.«
    »Ich glaube, er ist gestartet. Er scheint beim Durchqueren des Fensterausschnitts leicht zu steigen. Mit bloßem Auge ist das nicht zu erkennen, aber ich habe es nachgemessen. Wenn man berücksichtigt, dass die Bewegungsrichtung des Hubschraubers in der Fensterscheibe seitenverkehrt zu sehen ist, müsste er auf der anderen Straßenseite gestartet sein, und zwar von einer Stelle gegenüber dem Gebäude, in dem das Video aufgenommen wurde.«
    Bosch nickte.
    »Wenn ich jetzt nach einer Tonspur suche …«
    Sie schaltete auf den anderen Monitor, auf dem ein Audiogramm der einzelnen Tonquellen zu sehen war, die sie in dem Video isoliert hatte.
    »… und die konkurrierenden Geräusche so weit wie möglich herausfiltere, bekomme ich das.«
    Sie spielte eine Tonspur ab, deren graphische Darstellung fast einer Nulllinie entsprach, und alles, was Bosch hörte, war fernes, in kurzen regelmäßigen Abständen zerhacktes Verkehrsrauschen.
    »Das kommt von den Rotoren«, erklärte Starkey. »Den Hubschrauber selbst hört man zwar nicht, aber er zerstückelt das Umgebungsgeräusch. Es muss eine Art Tarnkappenhubschrauber sein.«
    Bosch nickte. Damit kam er der Sache schon näher. Jetzt wusste er, dass seine Tochter in einem Haus festgehalten wurde, das sich in der Nähe eines der wenigen Gebäude in Kowloon befand, die ein Heliport auf dem Dach hatten.
    »Hilft dir das weiter?«, fragte Starkey.
    »Allerdings.«
    »Gut. Dann hätte ich noch das hier.«
    Sie spielte eine andere Tonspur ab, auf der ein tiefes Rauschen zu hören war, das Bosch an fließendes Wasser erinnerte. Es setzte ein, wurde lauter und verebbte.
    »Was ist das? Wasser?«
    Starkey schüttelte den Kopf.
    »So hört es sich bei maximaler Verstärkung an. Das hinzukriegen, war ziemlich mühsam. Es ist Luft. Entweichende Luft. Ich würde sagen, der Eingang einer U-Bahn-Station oder vielleicht auch ein Schacht, durch den die Luft ins Freie geleitet wird, wenn ein Zug in die Station einfährt. Moderne U-Bahnen machen nicht viel Lärm. Aber wenn ein Zug durch den Tunnel fährt, schiebt er gewaltige Luftmassen vor sich her.«
    »Verstehe.«
    »Der Kamerastandort ist ziemlich weit oben. Der Spiegelung nach zu schließen, im zwölften, dreizehnten Stock. Deshalb ist die exakte Quelle dieser Tonspur schwer zu bestimmen. Sie könnte direkt vor dem Gebäude auf Straßenniveau sein, aber auch eine Straße weiter. Schwer zu sagen.«
    »Es hilft mir trotzdem.«
    »Und zum Schluss noch das hier.«
    Sie spielte den ersten Teil des Videos ab, in dem die Kamera auf Boschs Tochter gerichtet war und nur sie zeigte. Starkey stellte den Ton lauter und filterte alle konkurrierenden Geräusche heraus. Bosch hörte einen gedämpften Gesprächsfetzen.
    »Was ist das?«, fragte er.
    »Ich glaube, es kommt von außerhalb des Zimmers. Leider konnte ich die Störgeräusche nicht besser herausfiltern. Die Stimmen sind durch dazwischenliegende Wände gedämpft und hören sich nicht chinesisch an. Aber das ist, glaube ich, nicht der entscheidende Punkt.«
    »Was dann?«
    »Hör dir noch mal das Ende an.«
    Sie spielte die Aufnahme ein zweites Mal ab. Bosch starrte auf die verängstigten Augen seiner Tochter, während er sich auf den Ton konzentrierte. Es war eine Männerstimme, die zu gedämpft war, um verstanden oder übersetzt werden zu können, und sie schien abrupt zu enden, mitten im Satz.
    »Wurde der