Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Zimmer«, flüsterte er Eleanor zu, »und sieh nach, ob innen an der Tür ein Riegel oder eine Kette ist.«
Er reichte Eleanor den Schlüssel für Zimmer fünfzehn null-vier.
»Jetzt?«, flüsterte Eleanor.
»Ja, jetzt. Ich will wissen, was innen an der Tür ist.«
Sie nahm den Schlüssel und eilte den Gang hinunter. Bosch holte sein Dienstmarkenetui heraus. Vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen hatte er seine zwei besten Picks hinter die Dienstmarke gesteckt. Er wusste, dass die zwei dünnen Metallstreifen fälschlicherweise für einen Teil der Dienstmarke gehalten würden, wenn diese beim Röntgen aufleuchtete. Der Trick hatte auch diesmal funktioniert, und jetzt nahm er die Picks heraus und schob sie vorsichtig in das Schloss im Türknauf.
Er brauchte weniger als eine Minute, um es aufzubekommen. Ohne die Tür aufzudrücken, behielt er die Hand am Griff, bis Eleanor auf dem schwach beleuchteten Flur zu ihm zurückgehuscht kam.
»Auf der Innenseite ist eine Türkette«, flüsterte sie.
Bosch nickte und richtete sich, die rechte Hand immer noch am Türknopf, auf. Er wusste, dass er die Tür trotz der Kette problemlos mit der Schulter aufdrücken könnte.
»Bist du so weit?«, flüsterte er.
Eleanor nickte. Bosch fasste an seinen Rücken und zog die Pistole unter dem Sakko hervor. Er entsicherte sie mit dem Daumen und sah Eleanor an. Sie zählten beide stumm
eins, zwei, drei,
dann drückte er die Tür auf.
Die Kette war nicht vorgelegt. Die Tür ließ sich problemlos öffnen, und Bosch betrat rasch das Zimmer. Eleanor folgte ihm nach drinnen.
Das Zimmer war leer.
29
B osch ging durch das Zimmer in das winzige Bad und riss den schmutzigen Duschvorhang vor der kleinen, gefliesten Nische zurück. Sie war leer. Dann kehrte er ins Zimmer zurück und sah Eleanor an. Er sagte die Worte, die er befürchtet hatte.
»Sie ist weg.«
»Bist du sicher, ist es überhaupt das richtige Zimmer?«, fragte sie.
Bosch war sicher. Er hatte sich bereits die Risse und Nagellöcher in der Wand über dem Bett angesehen. Er holte den gefalteten Ausdruck aus seiner Jacke und reichte ihn ihr.
»Es ist das richtige Zimmer.«
Er schlug sein Sakko zurück und schob sich die Pistole wieder in den Hosenbund. Gleichzeitig kämpfte er gegen ein überwältigendes Gefühl von Hilflosigkeit und Angst an, denn er wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte.
Eleanor ließ das Foto aufs Bett fallen.
»Irgendeinen Hinweis muss es doch geben, dass sie hier gewesen ist. Irgendetwas.«
»Komm. Wir reden mit dem Kerl unten am Schalter. Er soll uns sagen, wer das Zimmer am Freitag gemietet hat.«
»Nein, warte. Erst müssen wir uns hier noch umsehen.«
Sie ließ sich auf alle viere nieder und schaute unters Bett.
»Sie ist nicht unter dem Bett, Eleanor. Sie ist weg, und wir dürfen keine Zeit verlieren. Ruf Sun an und sag ihm, er soll nicht nach oben kommen. Er soll lieber gleich das Auto holen.«
»Das darf einfach nicht wahr sein.«
Inzwischen schaute sie nicht mehr unters Bett, sondern kniete davor und stützte die Ellbogen darauf wie ein Kind beim Nachtgebet. »Sie kann doch nicht einfach weg sein. Wir …«
Bosch ging um das Bett und beugte sich zu ihr hinab. Er legte die Arme um sie und zog sie hoch.
»Komm, Eleanor, lass uns gehen. Wir werden sie finden. Das habe ich dir doch gesagt. Wir dürfen nur nicht aufgeben. Das ist alles. Wir müssen stark bleiben und dürfen nicht aufgeben.«
Er schob sie in Richtung Tür, aber sie riss sich von ihm los und ging zum Bad.
Sie wollte sich mit eigenen Augen überzeugen, dass es leer war.
»Eleanor, bitte.«
Sie verschwand ins Bad, und Bosch hörte, wie sie den Duschvorhang zurückzog. Doch dann kam sie nicht zurück.
»Harry!«
Rasch folgte ihr Bosch ins Bad. Eleanor war über die Kloschüssel gebeugt und hob den Abfalleimer hoch. Sie hielt ihn Bosch hin. Auf dem Boden des Eimers war ein Stück blutiges Toilettenpapier.
Eleanor nahm es mit zwei Fingern heraus und hielt es hoch. Der Blutfleck war kleiner als ein Zehncentstück. Die Größe des Flecks und die Art, wie das Papier zusammengeknüllt war, deuteten darauf hin, dass es auf eine kleine Verletzung gedrückt worden war, um den Blutfluss zu stoppen.
Eleanor ließ sich gegen Bosch sinken, und er wusste, sie nahm an, dass sie auf das Blut ihrer Tochter blickten.
»Wir wissen noch nicht, was das zu besagen hat, Eleanor.«
Sein Einwand wurde ignoriert. Ihre Körpersprache kündigte einen Nervenzusammenbruch an.
»Sie
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