Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
stammt.«
»Hat Sie das überrascht?«
»Leider nein.«
»Haben Sie eine Erklärung dafür, wie es auf Ihr Kleid gelangt sein könnte?«
Jetzt legte Royce Einspruch ein, mit der Begründung, die Frage gebe Anlass zu Spekulationen. Sie ließ ihn auch befürchten, die Zeugin könnte eine andere Erklärung dafür geben, als Royce sie für die Verteidigung vorzutragen beabsichtigte. Aber das erwähnte er natürlich nicht. Breitman gab dem Einspruch statt, und McPherson musste sich etwas anderes einfallen lassen, um ans Ziel zu kommen.
»Sarah, wann haben Sie das Kleid zum letzten Mal getragen, bevor es sich Ihre Schwester am Tag ihrer Entführung von Ihnen geborgt hat?«
Royce stand auf und legte erneut Einspruch ein.
»Wir stellen Spekulationen über Ereignisse an, die vierundzwanzig Jahre zurückliegen. Damals war die Zeugin erst dreizehn Jahre alt.«
»Euer Ehren«, konterte McPherson, »gegen diese sogenannten Spekulationen hatte Mr. Royce absolut nichts einzuwenden, als sie der Verteidigung in den Kram passten. Aber weil wir jetzt langsam zum Kern der Sache vordringen, legt er plötzlich Einspruch ein. Das sind keine Spekulationen. Ms. Gleason sagt wahrheitsgemäß über den schlimmsten und traurigsten Tag ihres Lebens aus, und ich finde nicht …«
»Einspruch abgelehnt«, verkündete Breitman. »Die Zeugin darf antworten.«
»Danke, Euer Ehren.«
Als McPherson die Frage wiederholte, beobachtete Bosch die Geschworenen. Er wollte sehen, ob auch sie sahen, was er sah – einen Strafverteidiger, der zu verhindern versuchte, dass die Wahrheit an den Tag kam. Bis zu diesem Moment hatte Bosch die Aussage Sarah Gleasons absolut überzeugend gefunden. Er wollte hören, was sie zu sagen hatte, und er hoffte, die Geschworenen hielten es wie er und missbilligten die Versuche der Verteidigung, sie daran zu hindern.
»Ich hatte es zwei Abende zuvor angehabt«, antwortete Gleason.
»Das wäre Freitag, der 14., gewesen. Der Valentinstag.«
»Ja.«
»Warum trugen Sie das Kleid an diesem Tag?«
»Meine Mutter machte wegen des Valentinstags ein richtig schönes Abendessen, und mein Stiefvater sagte, wir sollten uns dafür ein bisschen feinmachen.«
Gleason schaute wieder zu Boden und verlor den Blickkontakt zu den Geschworenen.
»Beging Ihr Stiefvater an besagtem Abend sexuelle Handlungen mit Ihnen?«
»Ja.«
»Trugen Sie dabei dieses Kleid?«
»Ja.«
»Sarah, wissen Sie, ob Ihr Vater darauf ejak…«
»Er war nicht mein Vater!«
Das schrie sie, und ihre Stimme gellte durch den Saal, zurückgeworfen von hundert Menschen, die jetzt ihr dunkelstes Geheimnis kannten. Bosch schaute zu McPherson und sah, dass sie die Reaktionen der Geschworenen studierte. Erst jetzt merkte er, dass der Versprecher beabsichtigt gewesen war.
»Entschuldigen Sie bitte, Sarah. Ich habe natürlich Ihren Stiefvater gemeint. Wissen Sie, ob er bei diesen Handlungen mit Ihnen ejakuliert hat?«
»Ja, und etwas davon ist auf mein Kleid gekommen.«
McPherson studierte ihre Notizen und blätterte durch mehrere Seiten ihres Blocks. Sie wollte, dass die letzte Antwort so lang wie möglich im Raum stehen bliebe.
»Sarah, wer hat bei Ihnen zu Hause die Wäsche gemacht?«
»Dafür kam immer eine Frau zu uns. Sie hieß Abby.«
»Haben Sie nach besagtem Valentinstag Ihr Kleid in die Wäsche gegeben?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Angst hatte, Abby könnte den Fleck sehen und merken, was passiert war. Ich fürchtete, sie könnte es meiner Mutter sagen oder zur Polizei gehen.«
»Warum wollten Sie das nicht, Sarah?«
»Ich … meine Mutter war glücklich, und ich wollte ihr nicht alles verderben.«
»Was haben Sie dann mit dem Kleid gemacht?«
»Ich habe den Fleck weggemacht und das Kleid in meinen Schrank gehängt. Ich wusste ja nicht, dass es meine Schwester tragen würde.«
»Was haben Sie gesagt, als sie es zwei Tage später anziehen wollte?«
»Sie hatte es bereits an, als ich sie damit sah. Ich sagte zu ihr, dass ich es anziehen wollte, aber sie sagte einfach, dafür wäre es zu spät, weil es nicht auf der Liste der Kleider stand, die ich nicht mit ihr tauschte.«
»Konnte man den Fleck auf dem Kleid sehen?«
»Nein, ich habe zwar extra geschaut, aber weil sich die Stelle unten am Saum befand, war der Fleck nicht zu sehen.«
McPherson machte wieder eine Pause. Aufgrund ihrer gemeinsamen Prozessvorbereitungen wusste Bosch, dass sie alle Punkte, die sie zu diesem Thema zur Sprache bringen wollte, angeschnitten hatte. Sie
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