Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
längere Pause ein, in der Gleason über ihre Antwort nachdachte. Das lag daran, dass es auf diese Frage keine gute Antwort gab.
»Ms. Gleason?«, drängte die Richterin. »Bitte beantworten Sie die Frage.«
»Nein, ich habe sie nicht gewarnt. Ich hatte Angst.«
»Angst? Wovor?«, fragte Royce.
»Vor ihm. Wie Sie bereits gesagt haben, habe ich in meinem Leben einige Therapien gemacht. Deshalb weiß ich, dass es keineswegs ungewöhnlich ist, dass ein Kind so etwas niemandem erzählen kann. Man wird zum Gefangenen seines eigenen Verhaltens. Zum Gefangenen seiner Angst. Das hat man mir oft erklärt.«
»Anders ausgedrückt, Sie haben das Spiel mitgespielt, um keinen Ärger zu bekommen.«
»In gewisser Hinsicht, ja. Aber ganz so einfach verhielt es sich nicht. Es war …«
»Aber Ihr Leben war damals sehr stark von Angst bestimmt?«
»Ja, ich …«
»Hat Ihnen Ihr Stiefvater eingeschärft, niemandem zu erzählen, was er mit Ihnen gemacht hat?«
»Ja, er sagte …«
»Hat er Ihnen gedroht?«
»Er sagte, wenn ich auch nur einem Menschen etwas davon erzähle, werde ich von meiner Mutter und meiner Schwester getrennt. Er sagte, er würde dafür sorgen, dass die Behörden den Eindruck gewännen, meine Mutter hätte Bescheid gewusst, und ihr deshalb das Sorgerecht entziehen würden. Ihr Melissa und mich wegnehmen. Und dass Melissa und ich dann getrennt würden, weil Pflegeeltern nicht immer zwei Kinder gleichzeitig aufnehmen könnten.«
»Haben Sie ihm geglaubt?«
»Ja, ich war zwölf. Ich habe ihm geglaubt.«
»Und das hat Ihnen Angst gemacht?«
»Ja. Ich wollte bei meiner Familie …«
»Waren diese Angst und die Einschüchterungsversuche Ihres Stiefvaters denn nicht auch der Grund, weshalb Sie seine Darstellung der Ereignisse gestützt haben, nachdem er Ihre Schwester ermordet hatte?«
Wieder sprang Maggie auf, um Einspruch einzulegen. Sie führte an, die Frage sei suggestiv und ihr lägen nicht erwiesene Tatsachen zugrunde. Die Richterin stimmte ihr zu und gab dem Einspruch statt.
Royce rückte Gleason unbeirrt weiter unerbittlich zu Leibe.
»War es denn nicht so, dass Sie und Ihre Mutter genau das taten, was Ihnen Ihr Stiefvater einimpfte, um zu vertuschen, dass er Melissa ermordet hatte?«
»Nein, das ist nicht …«
»Er sagte Ihnen, es sei ein Abschleppfahrer gewesen und Sie sollten einen der Männer aussuchen, die die Polizei im Garten aufgereiht hatte.«
»Nein! Er hat nicht …«
»Einspruch!«
»Sie haben gar nicht im Garten Verstecken gespielt, oder? Ihre Schwester wurde im Haus Kensington Landys ermordet. Ist es nicht so!«
»Euer Ehren!«
Maggie wurde richtig laut.
»Der Verteidiger setzt die Zeugin mit diesen Suggestivfragen unter Druck. Es geht ihm nicht um ihre Antworten. Es geht ihm nur darum, den Geschworenen seine haltlosen Unterstellungen zu übermitteln!«
Die Richterin blickte von Maggie zu Royce.
»Also gut, beruhigen Sie sich erst einmal alle wieder. Dem Einspruch wird stattgegeben. Mr. Royce, stellen Sie der Zeugin immer nur eine Frage und lassen Sie ihr Zeit, zu antworten. Und stellen Sie keine Suggestivfragen. Oder muss ich Sie daran erinnern, dass Sie sie als Zeugin aufgerufen haben? Wenn Sie sie in eine bestimmte Richtung drängen wollen, hätten Sie sie ins Kreuzverhör nehmen sollen, als Sie die Gelegenheit dazu hatten.«
Royce setzte seine beste reuige Miene auf. Das fiel ihm vermutlich schwer.
»Ich bitte um Entschuldigung, dass ich mich habe fortreißen lassen, Euer Ehren. Es soll nicht wieder vorkommen.«
Es spielte keine Rolle, ob es noch einmal vorkäme. Sein Ziel hatte Royce bereits erreicht. Es war nie seine Absicht gewesen, Gleason ein Geständnis zu entlocken. Damit hatte er nie gerechnet. Es war ihm nur darum gegangen, den Geschworenen seine Gegentheorie vorzustellen. Und das war ihm hervorragend gelungen.
»Okay, dann lassen Sie uns zum nächsten Punkt kommen«, fuhr Royce fort. »Sie haben erwähnt, dass Sie, von mehreren Haftstrafen erst gar nicht zu reden, einen beträchtlichen Teil Ihres Lebens in Entzugsanstalten und Therapieeinrichtungen verbracht haben. Ist das richtig?«
»Bis zu einem bestimmten Punkt in meinem Leben«, antwortete Gleason. »Aber seitdem bin ich clean und …«
»Beantworten Sie bitte nur die Frage, die Ihnen gestellt wurde«, fiel ihr Royce ins Wort.
»Einspruch«, sagte Maggie. »Die Zeugin versucht die Frage, die Mr. Royce gestellt hat, zu beantworten, aber weil ihm die vollständige Antwort nicht ins Konzept passt,
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