Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Buchstaben WINDHUND ! darauf geschrieben. Ich dachte nur, dass sie sich noch wundern würde.
»In dieser Sache«, fuhr Royce fort, »geht es nur um eines. Um die dunkelsten Geheimnisse einer Familie. Davon haben Sie jedoch bei der Falldarstellung der Anklage nur einen sehr oberflächlichen Eindruck gewonnen. Die Anklage hat Ihnen nur die Spitze des Eisbergs gezeigt, aber heute werden Sie den ganzen Eisberg zu sehen bekommen. Heute werden Sie die Wahrheit in ihrer ganzen schonungslosen Nacktheit erfahren. Und diese Wahrheit ist, dass das eigentliche Opfer Jason Jessup ist. Das Opfer einer Familie, die mit allen Mitteln versucht hat, ihre dunklen Geheimnisse zu verbergen.«
Maggie beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Mach dich auf was gefasst.«
Ich nickte. Ich wusste nur zu gut, was jetzt käme.
»In diesem Gerichtsverfahren geht es um ein Monster. Ein Monster, das ein Kind getötet hat. Ein Monster, das ein kleines Mädchen geschändet hat und sich bereits über das nächste Opfer hermachen wollte. Aber dann ging etwas schief, und es hat dieses Kind getötet. In diesem Prozess geht es um eine Familie, die solche Angst vor diesem Monster hatte, dass sie es dabei unterstützt hat, seine Verbrechen zu vertuschen und die Schuld einem anderen in die Schuhe zu schieben. Einem Unschuldigen.«
Bei den letzten Worten deutete Royce scheinheilig auf Jessup. Maggie schüttelte angewidert den Kopf, eine Geste, die ganz bewusst auf die Geschworenen abzielte.
»Jason, würden Sie bitte aufstehen?«, forderte Royce seinen Mandanten auf.
Jessup kam der Aufforderung nach und wandte sich den Geschworenen zu. Ohne zu blinzeln oder die Augen zu senken, wanderte sein Blick herausfordernd von einem zum anderen.
»Jason Jessup ist unschuldig«, fuhr Royce mit dem Brustton der Überzeugung fort. »Er musste als Sündenbock herhalten. Ein Unschuldiger, der sich im Netz eines hastig gefassten Plans verfing, mit dem ein Verbrechen von nicht zu übertreffender Abscheulichkeit vertuscht werden sollte, die Ermordung eines Kindes.«
Jessup setzte sich wieder, und Royce machte eine Pause, damit sich seine Worte in das Gewissen eines jeden Geschworenen einfressen konnten. Das alles war reines Theater und sorgfältig einstudiert.
»In diesem Fall gibt es zwei Opfer«, fuhr er schließlich fort. »Ein Opfer ist Melissa Landy. Sie hat ihr Leben verloren. Aber auch Jason Jessup ist ein Opfer, denn ihm hat man sein Leben zu nehmen versucht. Die Familie hat sich gegen ihn verschworen, und die Polizei ist der falschen Spur, die sie gelegt hat, bereitwillig gefolgt. Dabei hat sie Beweise nicht nur ignoriert, sondern Jason Jessup sogar welche untergeschoben. Und jetzt, nach vierundzwanzig Jahren, nachdem die meisten Zeugen verstorben und die Erinnerungen verblasst sind, kommen sie plötzlich an und wollen ihn zur Rechenschaft ziehen …«
Royce ließ den Kopf sinken, als lastete die Wahrheit auf ihm wie eine schwere Bürde. Gleich würde er zum entscheidenden Schlag ansetzen.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, wir sind nur aus einem einzigen Grund hier. Um die Wahrheit zu finden. Noch bevor dieser Tag zu Ende geht, werden Sie die Wahrheit über den Windsor Boulevard kennen. Sie werden wissen, dass Jason Jessup unschuldig ist.«
Royce machte erneut eine Pause, dann bedankte er sich bei den Geschworenen und kehrte an seinen Platz zurück. In einer, wie ich wusste, sorgfältig einstudierten Geste legte Jessup seinem Anwalt den Arm um die Schulter und drückte ihn zum Zeichen des Dankes an sich.
Doch die Richterin ließ Royce wenig Zeit, um diesen Moment oder sein effekthascherisches Eröffnungsplädoyer zu genießen. Sie forderte ihn auf, seinen ersten Zeugen aufzurufen. Ich drehte mich um und sah Bosch im hinteren Teil des Saals stehen. Er nickte mir zu. Sobald mir Royce bei seiner Ankunft im Gericht mitgeteilt hatte, dass Sarah Ann Gleason seine erste Zeugin wäre, hatte ich Bosch gebeten, sie im Hotel abzuholen.
»Die
Verteidigung
ruft Sarah Ann Gleason in den Zeugenstand«, verkündete Royce und betonte dabei das Wort Verteidigung auf eine Art, die suggerieren sollte, dies sei eine unerwartete Wende.
Bosch verließ den Gerichtssaal und kehrte kurz darauf mit Gleason zurück. Er führte sie den Mittelgang hinunter und durch die Schranke. Das letzte Stück ging sie allein. Sie war wieder zwanglos gekleidet und trug Jeans und eine weiße Bluse im Ethno-Look.
Gleason wurde darauf hingewiesen, dass sie weiterhin unter Eid stand, und
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