Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
bringe erst die Sachen hier zum SID rüber und mache mich dann gleich an die Arbeit. Unsere Zeugin aufspüren. Ich sage euch sofort Bescheid, wenn ich sie finde.«
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Dienstag, 16. Februar, 17:30 Uhr
I m Saal 100, dem größten Gerichtssaal des CCB , fanden ausschließlich Anklageverlesungen statt. Das war die erste Station für alle, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren. Jeder, der einer Straftat beschuldigt wurde, musste binnen vierundzwanzig Stunden einem Richter vorgeführt werden, und im CCB stand dafür ein großer Gerichtssaal mit entsprechend vielen Sitzplätzen zur Verfügung, auf denen die Angehörigen und Freunde der Angeklagten Platz nehmen konnten. Der Gerichtssaal wurde für die erste Gerichtsverhandlung nach der Festnahme verwendet, wenn die Lieben zu Hause sich noch keine Vorstellung machen konnten von dem langwierigen, zermürbenden und beschwerlichen Weg, der dem Angeklagten bevorstand. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass zur Anklageverlesung Mama, Papa, Ehefrau, Schwägerin, Tante und sogar der eine oder andere Nachbar im Gerichtssaal erschienen, um sowohl ihre Solidarität mit dem Angeklagten als auch ihre Entrüstung über seine Verhaftung zum Ausdruck zu bringen. Achtzehn Monate später, wenn sich das Verfahren endlich einem Urteil entgegenschleppte, konnte der Angeklagte von Glück reden, wenn ihm wenigstens Mama noch die Stange hielt.
Auf der anderen Seite der Schranke war es in der Regel genauso voll: mit Anwälten jeder Couleur. Grauhaarige alte Hasen, gelangweilte Pflichtverteidiger, aalglatte Kartellvertreter, misstrauische Staatsanwälte und publicitygeile Medienschakale standen bunt durcheinandergewürfelt herum oder unterhielten sich an der gläsernen Abtrennung zum Häftlingsbereich flüsternd mit ihren Mandanten. Über diesem Ameisenhaufen thronte Richter Malcolm Firestone, der von Jahr zu Jahr mit tiefer gesenktem Kopf und weiter zu den Ohren aufragenden Schultern dasaß, wobei die Letzteren wegen seiner schwarzen Robe wie angelegte Flügel aussahen. Insgesamt erweckte Firestone den Eindruck eines Geiers, der ungeduldig darauf wartete, sich an den blutigen Überresten des Rechtssystems den Bauch vollzuschlagen.
Firestone war für die Anklageverlesungen am Nachmittag zuständig. Sie begannen um fünfzehn Uhr und zogen sich so weit in den Abend hinein, wie es die Liste der Häftlinge erforderte. Deshalb war er ein Richter, der großen Wert auf eine zügige Abwicklung legte. Bei ihm musste man schnell schalten, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, einfach überfahren und dann liegen gelassen zu werden.
Im Saal 100 war die Justiz ein Fließband, das nie stillstand. Firestone wollte nach Hause. Die Anwälte wollten nach Hause. Alle wollten nach Hause.
Das Erste, was ich sah, als ich mit Maggie den Gerichtssaal betrat, waren die Kameras. Sie waren auf einer zwei mal zwei Meter großen Fläche aufgebaut, die gegenüber vom verglasten Bereich lag, in dem sechs Angeklagte untergebracht waren. Da ich diesmal nicht von Scheinwerfern geblendet wurde, sah ich, wie mein Freund Sticks das Arbeitsgerät aufstellte, dem er seinen Spitznamen zu verdanken hatte, sein Stativ. Er nickte mir zu, als er auf mich aufmerksam wurde, und ich erwiderte seinen Gruß.
Maggie stupste mich und deutete auf einen Mann, der mit drei anderen Anwälten am Tisch der Anklage saß.
»Der ganz hinten ist Rivas.«
»Okay. Geh du schon mal zu ihm, ich melde mich noch beim Protokollführer.«
»Du musst dich nicht melden, Haller. Hast du’s schon wieder vergessen? Du vertrittst jetzt die Anklage.«
»Ach so, richtig. Habe ich tatsächlich vergessen.«
Wir gingen zum Tisch der Anklage, und Maggie stellte mich Rivas vor. Der Staatsanwalt war noch blutjung, wahrscheinlich frisch vom Jurastudium an irgendeiner Eliteuniversität. Ich vermutete, dass er hier nur seine Zeit absaß, brav seine Pflicht tat und darauf wartete, ein Stück die Leiter hinaufzurutschen und der tödlichen Langeweile der Anklageverlesungen zu entkommen. Es nützte mir nichts, dass ich die Seiten gewechselt hatte, um für die Staatsanwaltschaft die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Seine Körpersprache konnte sein Misstrauen nicht verbergen. Ich saß am falschen Tisch. Ich war der Fuchs im Hühnerstall. Und ich wusste, noch bevor die Verhandlung vorüber wäre, hätte ich ihn in seinen Vorurteilen bestätigt.
Nach dem obligatorischen Handschlag blickte ich mich nach Clive Royce um. Er saß an der Schranke und sprach mit einer jungen
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