Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
an einer großen, alten Platane vorbeikam, fiel ihm ein gräulich weißer Fleck zwischen zwei Wurzeln des Baumes auf. Bei genauerem Hinsehen stellte er fest, dass es Wachs war. Jemand hatte hier eine brennende Kerze aufgestellt.
Überall im Park waren Verbotsschilder angebracht, auf denen wegen der Feuergefahr davor gewarnt wurde, zu rauchen oder Streichhölzer zu verwenden. Trotzdem hatte jemand unter dem Baum eine Kerze angezündet.
Bosch wollte schon Shipley anrufen, ob Jessup in der vergangenen Nacht im Park eine Kerze angezündet haben könnte. Aber er wusste, der Zeitpunkt wäre ungünstig. Shipley hatte gerade die Nachtschicht hinter sich und schlief jetzt wahrscheinlich. Bosch beschloss, bis zum Abend zu warten und ihn erst dann anzurufen.
Er blickte sich in der Umgebung des Baums nach anderen Hinweisen um, dass Jessup hier gewesen sein könnte. Der Boden sah aus, als wäre er vor kurzem an mehreren Stellen von einem Tier aufgewühlt worden. Aber sonst fiel ihm nichts Verdächtiges auf.
Als er die Lichtung am Ende des Wegs erreichte, auf der die Picknicktische standen, sah er einen städtischen Parkaufseher, der den Deckel einer Mülltonne abgehoben hatte und hineinschaute. Bosch ging auf den Mann zu.
»Hallo?«
Der Mann fuhr herum und hielt den Mülltonnendeckel weit von seinem Körper weg.
»Ja, Sir!«
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich … ich komme gerade von dort oben runter, und dort ist ein großer Baum – eine Platane, glaube ich –, und es sieht so aus, als hätte jemand direkt darunter eine Kerze angezündet. Da habe ich mich natürlich gefragt …«
»Wo?«
»Am Blinderman Trail.«
»Das müssen Sie mir zeigen.«
»Ich will aber nicht noch mal den ganzen Weg da raufgehen. Dafür habe ich nicht das richtige Schuhwerk. Es ist der große Baum mitten auf dem Weg. Die Stelle ist eigentlich nicht zu übersehen.«
»Im Park Feuer zu machen ist streng verboten!«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, knallte der Aufseher den Deckel mit einem lauten Scheppern auf die Mülltonne zurück.
»Ich weiß. Deshalb sage ich es Ihnen ja. Was ich allerdings fragen wollte: Hat es mit diesem Baum irgendwas Besonderes auf sich, weshalb jemand das getan haben könnte?«
»Jeder Baum hier ist was Besonderes. Der ganze Park ist etwas Besonderes.«
»Ja, schon klar. Aber könnten Sie mir trotzdem …«
»Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
»Wie bitte?«
»Ihren Ausweis. Ich möchte Ihren Ausweis sehen. Jemand, der hier in Hemd und Krawatte und nicht mit ›dem richtigen Schuhwerk‹ unterwegs ist, kommt mir ein bisschen verdächtig vor.«
Bosch schüttelte den Kopf und zog sein Dienstmarkenetui heraus.
»Ja, hier ist mein Ausweis.«
Er klappte das Etui auf und hielt es kurz hoch, um den Aufseher einen Blick darauf werfen zu lassen.
Bosch sah, dass auf dem Namensschild seiner Uniform Brorein stand.
»Okay?«, sagte Bosch. »Könnten wir jetzt wieder zu meiner Frage kommen, Officer Brorein?«
»Ich bin City Ranger, kein Officer«, antwortete der Mann. »Ist das Teil eines Ermittlungsverfahrens?«
»Nein, es ist Teil einer Situation, in der Sie mir einfach meine Fragen zu dem Baum dort oben am Weg beantworten.«
Bosch deutete in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Verstehen Sie jetzt?«, fügte er hinzu.
Brorein schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber das hier ist mein Revier, und ich bin dazu verpflichtet …«
»Nein, Sie sind hier in meinem Revier. Aber vielen Dank für die Hilfe. Ich werde es in meinem Bericht vermerken.«
Damit drehte sich Bosch um und ging in Richtung Parkplatz davon. Brorein rief ihm hinterher.
»Soviel ich weiß, ist an dem Baum nichts Besonderes. Es ist einfach nur ein Baum, Detective Borsh.«
Bosch winkte, ohne sich umzublicken. Und zu der Liste von Dingen, die er an Brorein nicht mochte, fügte er hinzu, dass er nicht gut lesen konnte.
17
Mittwoch, 24. Februar, 14:15 Uhr
M eine Erfolge als Strafverteidiger hatten sich ohne Ausnahme immer dann eingestellt, wenn die Anklage nicht auf meine Manöver vorbereitet war und von ihnen überrascht wurde. Der gesamte Staatsapparat bewegt sich in den festen Bahnen der Routine. Das ist auch bei der Strafverfolgung von Verstößen gegen die Gesetze des Staates nicht anders. Genau das nahm ich mir jetzt als frisch gebackener Staatsanwalt zu Herzen und schwor mir, nicht den Lockungen und Gefahren der Routine zu erliegen. Ich nahm mir fest vor, auf Clever Clive Royce’ Schachzüge bestens
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