Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
gern mit den Fotos anfangen«, sagte Rachel.
»Gut.«
Sie breitete vier Fotos von Melissa Landys Leiche im Müllcontainer auf dem Tisch aus und drehte sie zu ihm herum. Darüber legte sie zwei Fotos von der Obduktion. Aufnahmen eines toten Kindes anzusehen war Bosch noch nie leichtgefallen. Aber bei diesen fiel es ihm besonders schwer. Er starrte ziemlich lang auf das Foto, bis er merkte, dass der Kloß in seinem Hals darauf zurückzuführen war, dass die Leiche in einer Mülltonne lag. Der Umstand, dass sich der Täter des Mädchens auf diese Weise entledigt hatte, erschien ihm fast wie eine Demütigung des Opfers und wie ein zusätzlicher Affront gegen alle, die das Kind liebten.
»Der Müllcontainer«, sagte Bosch. »Glaubst du, damit wollte er eine Art Statement abgeben?«
Walling zögerte, als zöge sie diese Möglichkeit zum ersten Mal in Betracht.
»Ich gehe eigentlich ganz anders an die Sache heran. Meiner Meinung nach ist das alles auf eine beinahe spontane Entscheidung zurückzuführen. Es war nicht Teil eines Plans. Er wollte die Leiche loswerden, und dafür brauchte er einen Ort, an dem er nicht gesehen und die Leiche nicht sofort gefunden wurde. Er wusste von diesem Container hinter dem Theater und hat ihn deshalb benutzt. Dieser Entscheidung lagen einzig und allein praktische Erwägungen zugrunde. Das war kein Statement.«
Bosch nickte. Er beugte sich vor und notierte sich, dass er Clinton noch einmal aufsuchen und nach dem Müllcontainer fragen müsste. Das El Rey lag im Wilshire-Korridor, der den Fahrern von Aardvark zugeteilt gewesen war. Sie könnten demnach mit den dortigen Örtlichkeiten vertraut gewesen sein.
»Entschuldige, ich wollte nicht gleich zu Beginn schon allem eine falsche Richtung geben«, sagte er, während er schrieb.
»Nein, nein, schon gut. Ich fange ganz bewusst deshalb mit den Fotos des Mädchens an, weil ich glaube, dass diese Tat von Anfang an falsch interpretiert worden sein könnte.«
»Falsch interpretiert?«
»Wie es aussieht, haben die damaligen Ermittler den Tatort für bare Münze genommen und als ein Element des Mordplans des Verdächtigen betrachtet. Anders ausgedrückt: Die Ermittler vermuteten, dass Jessup, als er das Mädchen in seine Gewalt brachte, bereits den Plan gefasst hatte, sie zu erwürgen und in diesen Container zu werfen. Das geht aus dem Profil hervor, das von der Tat erstellt und dem FBI und dem California Department of Justice zum Vergleich mit anderen bekannten Straftaten vorgelegt wurde.«
Sie öffnete einen Ordner und nahm die umfangreichen Profile und Formulare heraus, die Detective Kloster vor vierundzwanzig Jahren ausgefüllt hatte.
»Detective Kloster hat nach ähnlichen Straftaten gesucht, die sich mit Jessup hätten in Verbindung bringen lassen. Er erzielte jedoch null Treffer, und damit war der Fall für ihn erledigt.«
Bosch hatte sich mehrere Tage lang ausgiebig mit den ursprünglichen Ermittlungsakten befasst und wusste bereits alles, was Walling ihm sagte. Aber er unterbrach sie nicht und ließ sie weitersprechen, weil er den Eindruck hatte, dass sie ihn auf bisher unbekanntes Terrain führen würde. Das war das Schöne und Einmalige an ihr. Da spielte es auch keine Rolle, dass man das beim FBI nicht erkannte und sie nicht ihren Fähigkeiten entsprechend einsetzte. Er würde das immer tun.
»Das Problem ist, glaube ich, dass den Ermittlungen in diesem Fall von Anfang an ein fehlerhaftes Profil zugrunde lag. Dazu kommt noch, dass damals die Datenbanken offensichtlich noch nicht so ausgereift und umfassend waren wie heute. Der Ermittlungsansatz war von Grund auf falsch und zielte in die falsche Richtung. Deshalb ist es kein Wunder, dass sie damit nicht weiterkamen.«
Bosch nickte und machte sich eine kurze Notiz.
»Hast du versucht, ein neues Profil zu erstellen?«, fragte er.
»So gut es ging. Und das hier ist der Ausgangspunkt. Die Fotos. Sieh dir mal die Verletzungen an.«
Bosch beugte sich über den Tisch, über die erste Reihe Fotos. Er sah jedoch keine Verletzungen. Das Mädchen war überstürzt in die fast volle Mülltonne geworfen worden. Im Theater mussten Renovierungsarbeiten durchgeführt oder neue Kulissen gebaut worden sein, denn der Container enthielt fast ausschließlich Bauschutt. Sägemehl, Farbkübel, zersägte oder gebrochene Holzstücke, Teile von Gipskartonplatten und zerrissene Plastikhüllen. Melissa Landy lag mit dem Gesicht nach oben in einer Ecke des Containers. Bosch sah nicht einen Blutstropfen
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