Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
verschwunden.
»Damit will ich nicht sagen, dass Jessup irgendetwas mit dem Verschwinden dieser Mädchen zu tun hatte, aber es besteht zumindest die Möglichkeit. Wie Maggie bereits bemerkt hat, ähneln sie alle einander und auch Melissa Landy. Und diese Ähnlichkeit erstreckt sich übrigens auch auf den Körpertyp. Größe und Gewicht der Mädchen weichen untereinander und von unserem Opfer maximal fünf Zentimeter beziehungsweise vier Kilo ab.«
Bosch drehte sich wieder zu seinen Zuhörern um und sah, dass McPherson und Haller wie gebannt auf die Fotos blickten.
»Unter jedem Foto habe ich die jeweiligen Details aufgeführt«, fuhr er fort. »Personenbeschreibung, Datum und Ort des Verschwindens, alles Wichtige.«
»Kannte Jessup eines oder mehrere dieser Mädchen?«, fragte Haller. »Besteht irgendeine Verbindung zu einem von ihnen?«
Das war der entscheidende Punkt, wusste Bosch.
»Was das angeht, bin ich – zumindest vorerst – noch auf nichts wirklich Konkretes gestoßen. Am ehesten vielleicht noch bei diesem Mädchen.«
Er drehte sich zu der Tafel um und deutete auf das erste Foto von links.
»Das erste Mädchen. Valerie Schlicter. Sie verschwand 1981 aus dem Viertel von Riverside, in dem Jessup aufwuchs. Er war damals neunzehn und sie siebzehn. Sie gingen beide auf die Riverside High, aber weil er die Schule schon früh geschmissen hat, sieht es nicht so aus, als wären sie zur selben Zeit dort gewesen. Jedenfalls wurde sie damals als Ausreißerin eingestuft, weil es zu Hause Probleme gab. Die Eltern waren geschieden, und sie lebte mit ihrem Bruder bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Und dann, etwa einen Monat nachdem sie mit der Highschool fertig geworden war, verschwand sie eines Tages einfach. Die Ermittlungen kamen nie über den Vermisstenstatus hinaus. In erster Linie wegen ihres Alters. Sie wurde einen Monat nach ihrem Verschwinden achtzehn. Im Grunde genommen kann man hier also gar nicht von Ermittlungen reden. Sie haben mehr oder weniger abgewartet, ob sie von allein wieder nach Hause käme. Was nicht der Fall war.«
»Und das ist alles?«
Bosch drehte sich um und sah Haller an.
»Vorläufig ja.«
»Dann brauchen wir uns wegen der Offenlegung keine Gedanken zu machen. Es gibt nichts Konkretes. Es besteht kein Zusammenhang zwischen Jessup und einem dieser Mädchen. Was dem noch am nächsten käme, ist dieses Mädchen aus Riverside, aber sie war fünf Jahre älter als Melissa Landy. Das scheint mir alles ziemlich weit hergeholt.«
Bosch glaubte, Erleichterung in Hallers Stimme mitschwingen zu hören. »Da ist allerdings noch ein weiterer Aspekt.«
Er ging ans Ende des Tisches, nahm eine Akte aus einer der Schachteln und brachte sie McPherson.
»Wie ihr wisst, wird Jessup seit seiner Haftbefreiung observiert.«
McPherson öffnete den Ordner und sah den Packen mit Jessups Observierungsfotos.
»Da sich in Jessups Tagesablauf bisher kein Schema erkennen lässt, observieren sie ihn rund um die Uhr. Und wie sich gezeigt hat, führt er zwei sehr unterschiedliche Leben. Zum einen seine Auftritte in der Öffentlichkeit, die in den Medien zu seinem so genannten Weg in die Freiheit hochstilisiert werden. Dieser ganze Affenzirkus, wie er in die Kameras lächelt und Hamburger isst, bis hin zu seinen Surfausflügen an den Venice Beach und den Talkshowauftritten.«
»Ja, dessen sind wir uns sehr deutlich bewusst«, sagte Haller. »Und größtenteils ist es von seinem Anwalt inszeniert.«
»Und daneben gibt es die nicht öffentliche Seite«, fuhr Bosch fort. »Die Kneipentouren, die Streifzüge durch die Stadt und die nächtlichen Besuche.«
»Was für nächtliche Besuche?«, fragte McPherson.
Bosch holte sein letztes visuelles Hilfsmittel, eine Karte der Santa Monica Mountains. Er breitete sie auf dem Tisch vor ihnen aus.
»Seit seiner Entlassung hat Jessup in neun Fällen die Wohnung in Venice, in der er zurzeit lebt, verlassen, um mitten in der Nacht zum Mulholland Drive hinaufzufahren. Dort oben hat er dann pro Nacht einen oder zwei Canyon Parks besucht. Besonders angetan hat es ihm anscheinend der Franklin Canyon. Dort war er bisher insgesamt sechsmal. Aber er war auch im Stone Canyon, im Runyon Canyon und auf dem Aussichtspunkt im Fryman Canyon, und zwar jeweils mehr als einmal.«
»Was macht er in diesen Parks?«, fragte McPherson.
»Also, erst mal sind das lauter öffentliche Parks, die ab Einbruch der Dämmerung geschlossen sind«, antwortete Bosch. »Er betritt sie also
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