Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
unerlaubterweise, meistens gegen zwei, drei Uhr nachts. Und dann sitzt er dort eigentlich nur herum. Geht in sich. Ein paarmal hat er auch eine Kerze angezündet. Immer an denselben Stellen der jeweiligen Parks. In der Regel an einem Weg oder unter einem Baum. Fotos haben wir davon allerdings keine, weil es zu dunkel war und wir nicht riskieren können, ihm zu nahe zu kommen. Ich war diese Woche zweimal mit der SIS unterwegs und habe es selbst mit angesehen. Es ist fast so, als würde er meditieren.«
Bosch kreiste die vier Parks auf der Karte ein. Alle lagen am Mulholland Drive und waren nicht weit voneinander entfernt.
»Hast du auch darüber schon mit deiner Profilerin gesprochen?«, fragte Haller.
»Ja, habe ich, und sie denkt das Gleiche wie ich. Dass er Gräber besucht. Um mit den Toten zu kommunizieren … mit seinen Opfern.«
»O Mann …«, entfuhr es Haller.
»Ja«, sagte Bosch.
Darauf trat eine lange Pause ein, in der Haller und McPherson über das Fazit von Boschs Ermittlungsergebnissen nachdachten.
»Habt ihr an diesen Stellen schon mal zu graben versucht, Harry?«, fragte McPherson.
»Nein, bisher noch nicht. Da halten wir uns vorerst noch etwas zurück, weil er diese Stellen immer wieder aufsucht. Er würde sofort Lunte riechen, und das wollen wir vorerst unbedingt vermeiden.«
»Schon klar. Wie sieht es …«
»Leichensuchhunde. Ja, wir haben gestern verdeckt welche hinaufgebracht. Wir …«
»Wie muss man sich einen verdeckt schnüffelnden Spürhund vorstellen?«, fragte Haller.
Bosch musste lachen, und das entschärfte die angespannte Atmosphäre ein wenig.
»Damit meine ich, dass die zwei Hunde, die dort oben waren, nicht in Polizeifahrzeugen angekarrt und nicht von Männern in Uniform herumgeführt wurden. Sie haben so zu tun versucht, als wären sie irgendwelche stinknormalen Typen, die dort mit ihren Hunden spazieren gehen. Allerdings war auch das nicht so einfach, weil es auf diesen Wegen verboten ist, Hunde mitzuführen. Wie auch immer, wir haben es versucht und sind ohne Zwischenfälle rein- und wieder rausgekommen. Außerdem habe ich mich mit der SIS kurzgeschlossen, um sicherzugehen, dass Jessup nirgendwo in der Nähe des Mulholland war, als wir angerückt sind. Er war surfen.«
»Und?«, fragte McPherson ungeduldig.
»Diese Hunde sind so abgerichtet, dass sie sich einfach auf den Boden legen, wenn sie irgendwo menschlichen Verwesungsgeruch riechen. Angeblich können sie ihn sogar noch nach hundert Jahren unter der Erde ausmachen. Wie auch immer, an drei der vier Stellen, die Jessup in den Parks aufgesucht hat, haben die Hunde keine Reaktion gezeigt. Aber an einer Stelle hat einer der beiden Hunde reagiert.«
Bosch beobachtete, wie sich McPherson in ihrem Stuhl drehte und Haller ansah. Er erwiderte ihren Blick, und es fand eine Art stummer Kommunikation zwischen ihnen statt.
»Allerdings sollte ich euch wohl darauf hinweisen«, fügte Bosch hinzu, »dass sich der fragliche Hund bisher in einem Drittel der Fälle getäuscht hat. Das heißt, er hat fälschlicherweise das Vorhandensein einer Leiche angezeigt. Der andere Hund hat an derselben Stelle keine Reaktion gezeigt.«
»Na, großartig«, brummte Haller. »Und was sagt uns das?«
»Na ja, deshalb habe ich euch hierherbestellt«, sagte Bosch. »Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem wir vielleicht zu graben anfangen sollten. Zumindest an dieser einen Stelle. Wenn wir das jedoch tun, laufen wir Gefahr, dass Jessup es mitbekommt und merkt, dass wir ihn beschatten. Aber selbst wenn wir dort graben und menschliche Überreste finden, stellt sich immer noch die Frage: Genügt das, um gegen Jessup Anklage zu erheben?«
McPherson beugte sich vor, während Haller sich zurücklehnte und damit signalisierte, dass sie jetzt an der Reihe war.
»Also, rechtliche Hindernisse sehe ich da nicht«, begann sie. »Die Parks sind staatlich, und es gibt nichts, was uns rein rechtlich gesehen daran hindern könnte, dort zu graben. Dafür wäre auch kein Durchsuchungsbeschluss erforderlich. Aber möchtest du jetzt sofort zu graben beginnen, und das ausschließlich wegen dieses einen Hundes, der eine relativ hohe Fehlerquote zu haben scheint, oder sollen wir damit bis nach dem Prozess warten?«
»Wir könnten es auch während des Prozesses machen«, sagte Haller.
»Die schwierigere Frage ist die zweite«, sagte McPherson. »Gehen wir der Einfachheit halber mal davon aus, dass an einer oder sogar an jeder dieser Stellen Leichen vergraben sind.
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